CfP/CfA Veranstaltungen (Vor Ort)

„Aber alle denken daran.“ Jüdische Autorschaft und Zensur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München (08.08.2025)


Veranstaltungsdatum:

09.03.2026-11.03.2026

Deadline Abstract:

08.08.2025

„Aber alle denken daran“ Jüdische Autorschaft und Zensur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts


9. März – 11. März 2026


Philologicum, Ludwig-Maximilians-Universität, München


„Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei; die andern verzeihen mir es; der dritte lobt mich gar dafür; aber alle denken daran“. Mit diesen Worten weist Ludwig Börne in seinen Briefen aus Paris darauf hin, dass seine jüdische Herkunft seine öffentliche Wahrnehmung als Autor maßgeblich mitprägte. Er benennt damit ein zentrales Moment jüdischer Autorschaft im
19. Jahrhundert, das auch durch Zeugnisse anderer Schreibender bestätigt wird: Heinrich Heine, Ludwig Börne oder Fanny Lewald publizierten stets im Bewusstsein, von der literarischen Öffentlichkeit als Jüdinnen oder Juden wahrgenommen und bewertet zu werden. Dieses Bewusstsein bestand auch dann fort, wenn die betreffenden Personen – wie Börne – längst konvertiert waren, um ihre soziale Stellung und ihre beruflichen Chancen zu verbessern. Das Zitat aus Börnes Briefen verweist auf eine grundlegende Ambivalenz, die den gesellschaftlichen Umgang mit jüdischen Autorinnen und Autoren prägte: Den verschiedenen Formen der Diskriminierung standen Versuche gegenüber, jüdische Autorinnen und Autoren zu fördern, ihrer schriftstellerischen Produktion mehr Raum zu geben und jüdische Traditionen und Themen in der literarischen Kultur sichtbar werden zu lassen. Bedingt durch die rigide Informationspolitik des Spätabsolutismus, in der jüdische Autorschaft und Literaturproduktion auch in den Fokus der staatlichen Behörden rückte, bildete sich ein Aufmerksamkeitsregime heraus, das emanzipative und integrative Kräfte freisetzte als auch antijüdische Ressentiments beförderte.


Die geplante Tagung widmet sich der Frage, wie sich solche Ambivalenzen im Feld der Zensurpraxis zeigten. Leitend ist die Frage, wie jüdische Autorinnen und Autoren, jüdische Themen und auch judenfeindliche Schriften in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den Zensurbehörden beobachtet, reguliert und beeinflusst wurden und wie jüdische Autoren und Autorinnen sowie die literarische Öffentlichkeit darauf reagierten bzw. sich darauf einstellten. Die von Börne attestierte Ambivalenz in der Wahrnehmung jüdischer Autorschaft spiegelt die Stellung von Jüdinnen und Juden im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wider, die von widersprüchlichen Entwicklungen geprägt war. Zwar wurde von staatlicher Seite die rechtliche Gleichstellung proklamiert und es gab sichtbare Fortschritte im Hinblick auf die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung, doch die reale gesellschaftliche Integration blieb prekär und konfliktbehaftet.2 Antijüdische Pogrome wie der Hep-Hep-Aufstand (1819) waren keine isolierten Ereignisse, sondern Teil einer Serie wiederkehrender Übergriffe und Ausgrenzungen, die die fragile Position der jüdischen Minderheit im Vormärz immer wieder ins öffentliche Bewusstsein riefen. Neben dieser offenen Gewalt entfalteten sich institutionelle Strategien der Regulierung, die sowohl die öffentliche Thematisierung jüdischer Fragen als auch die Möglichkeiten jüdischer Selbstrepräsentation betrafen. Die Zensur ist einer der zentralen Orte, an dem solche Strategien umgesetzt und erprobt wurden. Dabei kam es selten zu offenen Verboten, sondern vielmehr zu diskursiven Einschränkungen, semantischen Codierungen und indirekten Delegitimierungen.


Der Umgang der Zensur mit jüdischen Schriften und Themen lässt sich als Indikator der Widersprüchlichkeit einer Epoche deuten, in der Bestrebungen nach Emanzipation, Mechanismen administrativer Kontrolle und symbolische Markierungen jüdischer Identität eng miteinander verflochten waren. Zensoren ließen judenfeindliche Propaganda häufig unbehelligt stehen oder förderten sie indirekt durch gezielte Interventionen, eröffneten aber in anderen Fällen auch Möglichkeiten jüdischer Selbstrepräsentation und schränkten den Umlauf antisemitisch motivierter Agitation ein. Vor diesem Hintergrund will der Workshop u.a. folgenden Fragen nachgehen: Wann, wieso und in welcher Weise ordneten Zensoren die Verfasserinnen und Verfasser von Texten dem jüdischen Kollektiv zu? Welche Zuschreibungen und Bewertungen kamen in der Zensurpraxis zum Ausdruck? Welche sprachlichen und ästhetischen Restriktionen und Limitationen spielten dabei eine Rolle und wie zeigte sich in der behördlichen Kommunikation latenter Antisemitismus? Welche Strategien wandten die Autorinnen und Autoren wiederum an, um am öffentlichen Diskurs partizipieren zu können? Welche Handlungsspielräume besaßen sie? Und welche Rolle nahmen Verleger oder Redakteure als Mittler zwischen staatlichen Behörden und jüdischen Autorinnen bzw. Autoren ein?


Der Workshop untersucht diese Fragen unter der Annahme, dass Zensur gleichermaßen als Instrument der Kontrolle und als Katalysator literarischer Transformationsprozesse fungierte. Obwohl Zensoren formal am unteren Ende der bürokratischen Hierarchie standen, agierten sie keineswegs bloß als passive Vollstrecker von Vorschriften, sondern als vigilante Leser, die oftmals literarische, kulturelle, religiöse, ökonomische und politische Kriterien gegeneinander abwogen. Ihre Entscheidungen wurden von offiziellen Direktiven, von persönlichen Überzeugungen, sozialen Prägungen und der jeweiligen politischen Lage beeinflusst. Sie bemühten sich darum, ihre Entscheidungen abzusichern, indem sie auf ein offizielles Vokabular des Erlaubten und Verbotenen zurückgriffen. Dies macht die Frage nach der Behandlung jüdischer Autorinnen und Autoren bzw. Themen durch die Zensur zu einer besonderen Herausforderung: Judenfeindliche Ressentiments wurden in administrativen Dokumenten und Zensurakten nur selten offen benannt. Doch diese sprachliche Zurückhaltung verweist auf eine spezifische Form der Codierung. Im Anschluss an Shulamit Volkov stellt sich die Frage, wie antijüdische Semantiken auch dort wirksam wurden, wo sie verschlüsselt, ‚verschoben‘ oder neutralisiert wurden. Für die betroffenen Autorinnen und Autoren brachten diese Latenzen erhöhte Unsicherheiten mit sich. Sie motivierten zum Gebrauch von Pseudonymen, zum wachsamen Umgang mit der eigenen Sprache und zur spekulativen Deutung administrativer Entscheidungen. Vor diesem Hintergrund müssen die historischen Konstellationen, in denen jüdische Autorinnen und Autoren mit der Zensur konfrontiert waren, besonders umsichtig rekonstruiert werden.

1 Ludwig Börne: Sämtliche Schriften. Neu bearbeitet und herausgegeben von Inge und Peter Rippmann, Band 1–3, Düsseldorf: Melzer-Verlag, 1964: 510.
2 Vgl. Shulamit Volkov: Deutschland aus jüdischer Sicht. C.H. Beck Verlag, 2022.


Der Workshop, der im Kontext des Münchener SFB-Teilprojekts ‚Wachsames Lesen. Hermeneutische Hellhörigkeit in der literarischen Vigilanzkultur der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts‘ stattfindet, widmet sich dieser Herausforderung, indem er Expertinnen und Experten dazu einlädt, exemplarisch zu untersuchen, wie sich das Wechselspiel zwischen jüdischen Autorinnen und Autoren bzw. jüdischen Themen, Texten, Termini und der Zensur konkret gestaltete.


Interessierte Teilnehmer:innen werden gebeten, ein kurzes Exposé (ca. 1 Seite), das sich thematisch im Rahmen des skizzierten Problemzusammenhangs verortet, sowie biobibliographische Angaben bis zum 8. August 2025 an Charlotte Krick (ch.krick@lmu.de) zu senden.


Veranstalter:innen: Prof. Dr. Carlos Spoerhase, Prof. Dr. Erika Thomalla, Dr. Tilman Venzl, Dr. Kristina Mateescu und Charlotte Krick

Kontakt: Charlotte Krick ch.krick@lmu.de


SFB-Teilprojekt Wachsames Lesen: Hermeneutische Hellhörigkeit in der literarischen Vigilanzkultur des 19. Jahrhundert 

https://www.sfb1369.unimuenchen.de/forschung/teilprojekte/projektbereich_a/teilprojekt-a09/index.html


Literatur:


Bärbel Holtz mit Wolfgang Neugebauer (Hrsg.): Kulturstaat und Bürgergesellschaft. Preußen,
Deutschland und Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Im Auftrag der Berlin-
Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Akademie-Verlag, 2010.


Anne Purschwitz: Jude oder preußischer Bürger? Die Emanzipationsdebatte im Spannungsfeld
von Regierungspolitik, Religion, Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit (1780–1847). Vandenhoeck
& Ruprecht, 2018.


Julius Schoeps: Im Kampf um die Freiheit. Preußens Juden im Vormärz und in der Revolution
von 1848, EVA, 2022.


Stefanie Schüler-Springorum und Jan Süselbeck (Hg.): Emotionen Und Antisemitismus:
Geschichte - Literatur - Theorie. Wallstein Verlag, 2021.


David Sorkin: Jewish Emancipation. A History Across Five Centuries, Princeton University
Press, 2019.


Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code: Zehn Essays, 2. durch ein Reg. erw.
Aufl, C. H. Beck, 2000; Germans, Jews, and Antisemites: Trials in Emancipation, Cambridge
Univ. Press, 2006; Deutschland aus jüdischer Sicht: Ein historischer Überblick, C. H. Beck,
2022.

Veranstaltungsort

München, Deutschland

Organisation

Ludwig-Maximilians-Universität München
Beitrag von: Redaktion avldigital.de
Veröffentlicht am: 13.06.2025
Letzte Änderung: 13.06.2025, 12:34

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Vorgeschlagene Zitierweise:
"„Aber alle denken daran.“ Jüdische Autorschaft und Zensur in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, München (08.08.2025)" (CfP/CfA Veranstaltungen), avldigital.de, veröffentlicht am: 13.06.2025. http:/avldigital.de/de/vernetzen/fachinformationen/call-for-papers/aber-alle-denken-daran-judische-autorschaft-und-zensur-in-der-ersten-halfte-des-19-jahrhunderts-munchen-08082025