Konferenzen, Tagungen

„Prekärer Konsum“

Beginn
11.04.2024
Ende
13.04.2024

Ankündigung und Einladung: Tagung „Prekärer Konsum“ 11.–13.04.2024 an der JMU Würzburg

Seit der Konsum neben der Arbeit zur sinnstiftenden Aktivität im Wirtschaftskreislauf avanciert ist, tritt er als Instrument der individuellen Entfaltung und Selbstbestimmung auf. Das zeigt sich insbesondere bei prekären Arbeitsverhältnissen: Dort, wo aufgrund neuer Formen flexibler Arbeit, wie sie mit dem Neoliberalismus assoziiert werden, radikale Desorientierung, Unsicherheit und Verlust von (Selbst-)Bedeutung herrschen, eröffnet der Konsum Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung. Prekärer Konsum ist jedoch nicht nur eine Reaktion auf berufliche Unsicherheit oder die Uneinlösbarkeit des Selbstverwirklichungsversprechens eines Prekariats der Armut; prekärer Konsum kann auch in Sphären des Luxus auftreten. In diesem Spannungsfeld verschieben ostentative Konsumnormen die Grenzen des Prekariats und führen zu einer Neudefinition sozialer Identitäten. Diese Neudefinition erstreckt sich zwischen dem ökonomischen Tauschwert, der durch den Kauf oder die potenzielle Käuflichkeit/Verkäuflichkeit eines Produkts entsteht, und dem Gebrauchswert, der aus der Verwendung oder potenziellen Verwendbarkeit dieses Produkts als sinnliches Objekt resultiert (vgl. Hutter 2010, 32f.; von Braun 2019). Beide Blickrichtungen können miteinander verbunden werden, sich aber auch überlagern und/oder verdrängen.

Unsere Tagung blickt vor diesem Hintergrund auf die Literaturgeschichte, indem wir Fragen zu Gender und prekären Konsum, Luxus und Prekariat sowie Historischer Ökonomie, insbesondere mit Blick auf ihre Diskurse in der Literatur, aufwerfen. Wir möchten zur Diskussion stellen, wie der Konsum für Frauen zur Plattform der Emanzipation und Selbstthematisierung werden kann – ein Prozess, der parallel zur politischen Mitsprache voranschreitet. Prekärer Konsum kann hier aus der prekären Erwerbstätigkeit resultieren oder aus der ‚Unsicherheit‘ als zentraler Sorge des Subjekts (vgl. Butler 2012). Dies kann u.a. Bekleidung oder Schmuck (dazu Bohn 2006; Borchert 2004 und 2015) verdeutlichen, die nach Georg Simmel „psychologische“ Instrumente sind, um einen Kompromiss zwischen Nachahmen und Sich-Abgrenzen, zwischen sozialer Egalisierung und individueller Differenzierung zu finden (vgl. Simmel 1908, 181). Ein Deutungsansatz, der Style als sozial- und klassenhistorisch gesättigtes Distinktionssystem wieder in die Konsumproduktion zurückspeist, vermag die Emanzipation der Frau als Eigenproduktion im ökonomischen Sinn zu werten (vgl. Hebdige 1983). Literatur und Kunst nehmen Konsum als kulturelle Aktivität in den Blick und ergänzen die ökonomische Perspektive durch die Idee des symbolischen Kapitals (vgl. Bourdieu 1982; ‚Bereicherung‘ bei Boltanski/Esquerre 2018, 95).

Mit der theoretischen Unterbestimmung von Normal-Konsum geht einher, dass der/die Konsument:in gerade im langen 19. Jahrhundert lediglich über seine/ihre Extreme, d.h. über die Konsumgewohnheiten von Armen und Reichen, wahrgenommen wird. Die damit verbundene Konstellierung von Luxus und Armut wird im deutschsprachigen literarischen Kontext z.B. anhand der bürgerlichen Romane Jean Pauls, die sowohl extreme Armut als auch einen beinahe märchenhaften Reichtum beschreiben, deutlich, aber auch bei Louise Otto oder Bettina von Arnim. Literatur begünstigt den Zwiespalt zwischen Aversion und Affinität zum Luxus (Weder/Bergengruen 2011) einerseits, andererseits intensiviert sie die Auseinandersetzungen um die soziale Frage im 19. Jahrhundert und Kritik der klassischen Nationalökonomie im Hinblick auf Armut und Verelendung (vgl. Béraud/Faccarello 1993; für die Literatur: Brüns 2008; Jütte 2016; Schäfer 2018). Die Professionalisierung des ›Berufes‹ Schriftsteller treibt die Autor:innen in finanzielle Abhängigkeit von Verlagen, Redaktionen, sodass sie auf dem freien Markt ihre Ware ›verkaufen‹ müssen; gerade um 1900 ist die Lage – insbesondere weiblicher – Schriftstellerinnen ökonomisch und gesellschaftlich prekär.

Die Anziehung der konsumierbaren Dinge wird gerade in der Warenhausliteratur des 20. Jahrhunderts erzählt. Die „Schaufenster-Qualität“ (Simmel 1896) verleiht den Gütern ästhetische Bedeutsamkeit und schafft einen neuen Schauplatz für den verarmenden Adel, der sich zur Existenzsicherung in subalternen Stellungen in Warenhäusern verdingen muss (vgl. Oscar T. Schweriner: Arbeit. Ein Warenhaus-Roman [1912]; Ernst Georgy: Der Konfektionsbaron. Ein Zeitbild aus der Konfektion [1923]; Vicki Baum: Jape im Warenhaus [1928]). Dabei avancieren z.B. Dekorateure als Konfliktfiguren zwischen Kunst und deren ökonomischer Indienstnahme durch Reklame zu Protagonist:innen (vgl. Sigfrid Siwertz: Das große Warenhaus [1928] oder Vicki Baum: Der große Ausverkauf [1937]). Gleichzeitig wird der Austauschprozess zwischen Erotik und Konsumtion (vgl. Felber 2016) vorgeführt, der an die Problematisierung der bürgerlichen Ehe des 19. Jahrhunderts, z.B. in Fontanes L’Adultera [1880] erinnert.

Programm

Donnerstag, 11.4.24

 

14.00         Begrüßung

14.15         Prof. Dr. Christine Weder (Département de langue et de littérature allemandes, Geneve): 

                   (Un-)Romantischer Konsum? Vom Luxus des Lesens über Armut

15.10         Prof. Dr. Andreas Langenohl (Institut für Soziologie, Gießen): 

                   Ostentativer Konsum zwischen Exotismus und Moderne-Theorie: Das Beispiel des Durkheim-Kreises

16.30         Prof. Dr. Maximilian Bergengruen (Institut für deutsche Philologie, Würzburg):

'Arbeitslust' – Konsumtions/Produktions-Koppelungen in Fontanes ‚Irrungen Wirrungen‘

17.25         PD Dr. Antonia Eder (Institut für Germanistik, Karlsruhe):

                   Anökonomien. Zu Figurationen des Unnützen im Realismus

 

Freitag, 12.4.24

9.45           Prof. Dr. Anne Enderwitz (Institut für Anglistik und Amerikanistik, Berlin):

“I do not like that dressing; ‘tis too poor”: Prekärer Konsum und Geschlecht im englischen Theater um 1600

10.40         Dr. Dirk Schuck (Historisches Seminar, Erfurt): 

Prekärer Konsum als Signalisierung von Geschlechterrollen am Beispiel der Waschfrauen von Glasgow im 18. Jahrhundert

12.05         Dr. Gabriele Michalitsch (Institut für Politikwissenschaft, Wien): 

Die Gnade der Herren – Weiblicher Konsum in ökonomischen Theorien des 19. Jahrhunderts

14.25         Dr. Elisabeth Weiß-Sinn (Institut für deutsche Philologie, Würzburg): Frauenkapital – eine werdende Macht: wirtschaftswissenschaftliche und finanztechnische Fragen im kulturellen Kontext

15.20         Dr. Till Breyer (Germanistisches Institut, Bochum): 

                   Irmgard Keuns Konsumentinnen

16.45         Prof. Dr. Kirsten von Hagen (Französische und spanische Literatur- und Kulturwissenschaft, Siegen):

Formen prekären Konsums in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts – Flaubert, Maupassant, Zola

 

Samstag, 13.4.24

9.30           Martha Burkart (Institut für deutsche Philologie, Würzburg):

                   „Ein Glas Bier zum Frühstück“ – Konsum bei Gerhart Hauptmann

10.25         Conrad Fischer (Institut für deutsche Philologie, Würzburg):

Von der Lüge des Luxus und der Wahrheit der Kunst – prekäres Produzieren aus ökonomischer und ästhetischer Perspektive in Marie von Ebner-Eschenbachs ‘Lotti, die Uhrmacherin‘ (1880)

11.50         Prof. Dr. Bernhard Kleeberg (Historisches Seminar, Erfurt):

                   Autosuggestion. Zur Frühgeschichte der Werbepsychologie

12.45         Dr. Lisa Wille (Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft, Darmstadt):

Massenmediale Konsumnarrative in Vicki Baums Komödie 
‘Pariser Platz 13’

13.35         Verabschiedung

 

Bei Änderungen finden Sie das aktualisierte Programm unter: https://www.germanistik.uni-wuerzburg.de/ndl2/dfg-projekt-konsument-konsumentin-konsumobjekt/

Wir heißen gerne auch zuhörendes Publikum willkommen und bitten dafür um Anmeldung bei Dr. Elisabeth Weiß-Sinn (elisabeth.weiss-sinn@uni-wuerzburg.de).

Literatur:

Béraud, Alain und Gilbert Faccarello: Nouvelle histoire de la pensée économique Vol.2: Des premiers mouvements socialistes aux néoclassiques, La Découverte 1993.

Bohn, Cornelia: Kleidung als Kommunikationsmittel, in dies.: Inklusion, Exklusion und die Person, Konstanz 2006. S. 95-125.

Boltanski, Luc und Amaud Esquerre: Bereicherung: Eine Kritik der Ware, Berlin 2018.

Borchert, Angela und Ralf Dressel (Hg.): Das Journal des Luxus und der Moden: Kultur um 1800, Heidelberg 2004.

Borchert, Angela: Luxus als Komfort im ‚Journal des Luxus und der Moden‘: Wissenspopularisierung und Kulturanthropologie am Beispiel kontrovers diskutierter Schuhmoden um 1800. Fremde – Luxus – Räume, Berlin 2015, S. 229-255.

Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982.

Braun, Christina von: Das Konsumobjekt und die Gesellschaft der Gabe, in: Baßler, Moritz und Heinz Drügh (Hg.): Konsumästhetik: Umgang mit käuflichen Gegenständen, Bielefeld 2019, S. 87–96.

Brüns, Elke (Hg.): Ökonomien der Armut. Soziale Verhältnisse in der Literatur, München 2008.

Butler, Judith: Vorwort, in: Die Regierung des Prekären, hg. v. Isabell Lorey, Wien 2012, S. 7–11.

Felber, Silke, u. a. (Hg.): Kapital, Macht, Geschlecht: künstlerische Auseinandersetzungen mit Ökonomie und Gender, Wien 2016.

Hebdige, Dick: Subculture – Die Bedeutung des Stils, Reinbek 1983.

Hutter, Michael: Wertwechselstrom: Texte zu Kunst und Wirtschaft, Hamburg 2010.

Jütte, Robert: Arme, Bettler, Beutelschneider: Eine Sozialgeschichte der Armut, Weimar 2016.

Schäfer, Gerhard K.: Geschichte der Armut im abendländischen Kulturkreis, in: Huster, Ernst-Ulrich et al. (Hg.): Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, Wiesbaden 2018, S. 315–339.

Simmel, Georg: Die Frau und die Mode, in: Das Magazin. Monatszeitschrift für Literatur, Musik, Kunst und Kultur 77 (1908): H5. 

Simmel, Georg: Berliner Gewerbe­Ausstellung [EA 1896]. In: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 2004, Bd. 17, S. 33–38.

Weder, Christine und Maximilian Bergengruen (Hg.): Luxus: die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne, Göttingen 2011.

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Forschungsgebiete

Literaturgeschichtsschreibung (Geschichte; Theorie), Gender Studies/Queer Studies, Literatur und Soziologie, Stoffe, Motive, Thematologie

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Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU)
Datum der Veröffentlichung: 18.03.2024
Letzte Änderung: 18.03.2024