Literary Class Studies – Soziale Herkünfte in der Literatur/Wissenschaft, Münster
„Die Klassenfrage ist zurück in der Literatur“ – diese journalistische Einschätzung (Graf 2020) ist angesichts der Vergabe des Literaturnobelpreises 2022 an Annie Ernaux und ihr autobiografisches, klassenbewusstes Werk nicht zu bezweifeln. Ebenso mit Didier Eribons soziologischem Selbstversuch Retour à Reims (deutsch Rückkehr nach Reims, 2016) und Édouard Louis‘ Romanen ist, von Frankreich ausgehend, eine Debatte über die ‚neue‘ Klassenfrage in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur angestoßen worden. Das mehrfach ausgezeichnete Debüt von Deniz Ohde, Streulicht (2020), der autobiografische Text von Christian Baron Ein Mann seiner Klasse (2020), Daniela Dröschers Zeige deine Klasse (2018) sowie Anke Stellings Roman Schäfchen im Trockenen (2018) – um nur einige der zeitgenössischen Texte zu nennen – stellen die soziale Herkunft in den Fokus.
Von einer Rückkehr der Klassenfrage zu sprechen, impliziert, dass diese keineswegs neu ist. Dem ist aus literarhistorischer Sicht unbedingt zuzustimmen: Bereits der frühneuzeitliche Schelmenroman ist als satirische Reflexion gesellschaftlicher Stratifikation zu lesen. In der Aufklärung gehen von Anton Reisers Bildungswegen (Karl Philipp Moritz: Anton Reiser, 1785/6 u. 1790) vielfache Impulse für die Gattung des Entwicklungs- und Bildungsromans aus. Für das 18. Jahrhundert ist das bürgerliche Trauerspiel, für das 19. Jahrhundert und seine Ausdifferenzierung der vorindustriellen Gesellschaft sind Romane der Gründerzeit oder die Dorfgeschichte (Auerbach, Keller) zu nennen, während in der Weimarer Republik die Angestelltenfigur in Erich Kästners Fabian (1931) oder Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen (1932) soziale Mobilität oder Immobilität thematisieren. Eine solch kurze und freilich unvollständige Auflistung zeigt: Literatur greift seit jeher soziale Fragen auf. Das gilt jedoch umgekehrt nicht im gleichen Maß für die Literaturwissenschaft.
Genau bei diesem Desiderat setzt die Tagung an und nimmt Literatur als ein Medium in den Blick, in dem soziokulturelle Zuschreibungen und Selbstbilder entworfen werden und sowohl in Themenwahl wie Figurendisposition zum Ausdruck kommen als auch formensprachlich greifbar werden. Dementsprechend liegt der Fokus der Tagung zum einen auf der ÄSTHETIK DER KLASSE: Die Beiträge interessieren sich für die ästhetischen Eigengesetzlichkeiten (narrativen, rhetorischen Verfahren; Modelle von Raum und Welt etc.) von ‚Klassen-‘Texten. Zum anderen bemüht sich die Tagung um die HISTORISIERUNG VON PARAMETERN DES SOZIALEN und fragt danach, wie in der Geschichte und Gegenwart der Literatur soziale Identitäten und Modelle von Gesellschaft entworfen wurden; in diesem Zusammenhang ist das literaturwissenschaftliche Potential des sozioökonomischen Begriffs der Klasse zu eruieren.
PROGRAMM
DIENSTAG, 20.02.2024
10 Uhr
Julia Bodenburg, Irene Husser: Begrüßung
10.15-11.00 Uhr
Patricia Gwozdz: Klasse als Wille und Vorstellung: Wie Don Quijote Pierre Bourdieu erfand
11.00-11.45 Uhr
Lena Maria Friedrich: Klassenstruktur und Semantik? Zu ‚sozialer Herkunft‘ und Genese des Klassenbegriffs aus soziologischer Perspektive
11.45-12.30 Uhr
Heribert Tommek: Sich anlehnen. Der Geschmack der mittleren Klassenfraktionen
_Mittagspause_
14.00-14.45 Uhr
Eva Blome: Bildungsgeschichten und Klassenerzählung. Ein Versuch über Traditionslinien und Genreverhältnisse der Gegenwart
14.45-15.30 Uhr
Stefan Hermes: Aufklärerische Autosoziobiographik. Zur Narrativierung sozialer Ungleichheit in Ulrich Bräkers Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des Armen Mannes im Trockenburg (1788/89)
15.30- 16.15 Uhr
Alexandra Pontzen: Aufstieg ohne ‚Leseszene‘: Weibliche Autosoziobiographie bei Annie Ernaux und deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen
_Kaffeepause_
16.45-17.30 Uhr
Joana van de Löcht: Bauernkalender, Wetterpredigt und höfische Meteorologie. Frühneuzeitliche Wetterwahrnehmung und gesellschaftliche Stratifikation
17.30-18.15 Uhr
Kerstin Wilhelms: Salonliteratur und Klasse: Soziale Zugehörigkeit gelehrter Damen
_Abendessen_
20.00 Uhr
Lesung von Daniela Dröscher aus Lügen über meine Mutter, Studiobühne der Universität Münster
MITTWOCH, 21.02.2024
09.00-09.45 Uhr
Julia Bodenburg: ‚Klassen‘-Affekte im sozialen Drama
09.45-10.30 Uhr
Irene Husser: Empfindsamer Realismus – Erzählen von Klasse und Klassengrenzen bei Theodor Fontane
_Kaffeepause_
10.45-11.30 Uhr
Ina Henke: „Bin ich eine verantwortungslose Mutter, Rico?“ –Verhandlungen von ‚Klasse‘ in Kriminalromanen für Kinder
11.30-12.15 Uhr
Irmtraud Hnilica: Bonbons und Erdbeeren. Konsum und Klasse in Deniz Ohdes Streulicht
_Mittagspause_
13.30-14.15 Uhr
Henning Podulski: „Ich schreibe für die Klasse, aus der ich komme und der ich mich nach wie vor verbunden fühle und in der ich weiterhin lebe“. Zur Kategorie ‚Klasse' in der Gruppe 61 und im Werkkreis
14.15-15.00 Uhr
Iuditha Balint: Klasse und Fürsprache
15.00-15.15 Uhr
Abschlussdiskussion
Die Tagung wird unterstützt vom Fritz-Hüser-Institut Dortmund, dem Gleichstellungsbüro sowie dem Germanistischen Institut der Universität Münster.
Eine Anmeldung für die Teilnahme (auch über Zoom) erfolgt unter: https://indico.uni-muenster.de/e/LiteraryClassStudies
Der Zugangslink wird am Tag vor Beginn der Tagung via E-Mail verschickt.
Organisation: PD Dr. Julia Bodenburg (juboden@uni-muenster.de), Dr. Irene Husser (irene.husser@uni-tuebingen.de)