Zukunftsträume
Seit jeher wird dem Traum eine besondere Beziehung zur Zukunft zugeschrieben. Bereits in der Antike kennt man Weissagungs- und Weisungsträume, praktiziert Rituale, um geträumte Zukunftsinkubationen hervorzubringen. Die Bibel verweist auf nächtliche Botschaften, die von Gott gesandt, aber eben auch eine List des Satans sein können. Im Glauben, dass sich in Träumen Voraussagen verbergen können, von dem bis heute unzählige mantische Bücher, Blogs, Internetseiten zeugen, verbinden sich Wünsche und Ängste bezüglich einer ungewissen Zukunft mit dem gleichfalls deutungsunsicheren Medium des Traums. Dies hat auf vielfache Weise Eingang in die Kunst gefunden: als Ausdruck einer Faszination und als mehrdimensionales Gestaltungsmittel – sei es in der Literatur, im Film, in der Musik oder bildenden Kunst –, das Imaginations- und Verhandlungsräume öffnet. Dass Träume bis ins Mittelalter als Projektionen des Kommenden verstanden werden, schlägt sich eben nicht nur in Traumdeutungsbüchern nieder, sondern auch in literarischen Texten. Auf der anderen Seite kann der Zukunftstraum in der Kunst auch ganz funktional eingesetzt sein wie im Fall einer spannungssteigernden Prolepse im Drama, deren Bewertung sich im Verlauf der Handlung von einer zukunftsungewissen Voraussage zu einer zukunftsgewissen wandelt. Die Untersuchung von Darstellungsweisen und Funktionen hat zugleich immer auch eine historische Dimension. Während in der antiken und mittelalterlichen Diskurstradition die geträumte Zukunft symbolisch Handlungen und Ereignisse vorwegnimmt, deren Eintreten in der Wachwelt nicht mehr vollständig von den Träumenden beeinflusst werden kann, sondern vor allem auf einer z.B. göttlichen Interventionsinstanz beruht, rückt ab der Frühen Neuzeit auch in Zukunftsträumen die Handlungsmacht der Träumenden in den Mittelpunkt. Onirische Vorstellungen von der Zukunft werden so auch zu Möglichkeitsräumen, in denen individuelle wie kollektive Entwürfe des Kommenden sozusagen ‚im Spiel‘ erprobt werden.
Das Graduiertenkolleg „Europäische Traumkulturen“ an der Universität des Saarlandes geht in sein neuntes und letztes Jahr und möchte auf seiner Abschlusstagung nicht nur zurück, sondern insbesondere nach vorne schauen und sich dem Zukunftsgehalt des Träumens in Literatur und Kunst, in Theater und Film sowie der Musik widmen.
Wichtig sind für uns u.a. folgende Fragen: Von welcher Zukunft handeln die künstlerischen Zukunftsträume? Sind sie utopischer oder dystopischer Natur? Sind sie als Schlafträume markiert oder handelt es sich um Zukunftsvorstellungen, die zwar traumhaft konzipiert, aber doch in der Wachwelt verankert sind? Wie sind sie mit welcher Gegenwart oder Vergangenheit verbunden? Welche Funktion nehmen sie innerhalb des jeweiligen Werks ein? Inwieweit reichen religiöse, politische oder Wissensdiskurse in die künstlerischen Zukunftsträume hinein?
Neben der kulturwissenschaftlichen Perspektive wird immer auch die spezifische Ästhetik der Zukunftsträume im Fokus stehen. Wir untersuchen hier das Verhältnis von onirischen Zukunftsimaginationen zu zeitgenössischen Darstellungskonventionen, zu den jeweiligen normativen Modellen von Poetiken und Gattungen, den Konventionen des ästhetischen Ausdrucks. Dabei stellt sich die Frage nach den medialen Besonderheiten in der Inszenierung von Zeit- und Zukunftserfahrungen: Der Blick in die Zukunft ist auch insofern medienspezifisch, als z.B. das sprachliche Tempussystem eines literarischen Textes einen anderen Umgang mit Zeiten ermöglicht als die zunächst einmal auf Präsenz des Dargestellten ausgelegte Leinwand eines Gemäldes. In diesem Zusammenhang sind auch Herausforderungen der Übersetzung von Zukunftsträumen – zwischen Einzelsprachen ebenso wie zwischen Medien – von Interesse.
Als Abschlusstagung des Graduiertenkollegs laden wir auch dazu ein, die Untersuchungen der traumhaften Ästhetiken der Zukunft mit den Schwerpunktthemen unserer vorausgegangenen Forschungsarbeiten zu verknüpfen und die Ergebnisse für die Untersuchung folgender Zusammenhänge zu nutzen: Wie gestaltet das Zukunftsträumen die Themen von Geburt und Tod, die ja von Beginn an auf eine – irdische oder jenseitige – Zukunft gerichtet sind? Welche Rolle nehmen Zukunftsvisionen im Spannungsfeld von Sinnlichkeit und Rationalität ein? Auf welche Art werden in Inspirationsträumen Ideen geformt, die eine Zukunft vorhersagen oder gestalten können? Welche literarästhetischen und motivischen Gestaltungen einer Zukunfts-Zeit lassen sich finden? Wie lässt sich über eine anthropozentrische Perspektive hinaus eine geträumte Zukunftswelt ausgehend z.B. von Tieren oder von Dingen auf der Schwelle zwischen Traum- und Wachzustand entwerfen?
Gemäß der interdisziplinären und intermedialen Ausrichtung des Graduiertenkollegs sind Beiträge von Wissenschaftler:innen aus den Bereichen der Kunst-, Kultur-, Theater-, Film-, Medien-, Musik- und Literaturwissenschaft sowie Geschichte, Philosophie und angrenzende Disziplinen willkommen.
Abstracts für einen Vortrag in deutscher, französischer oder englischer Sprache (Umfang des Abstracts max. 400 Wörter) sowie ein tabellarischer Lebenslauf mit Publikationsliste (sofern vorhanden) sind als pdf-Datei bis zum 30.06.2023 zu richten an: traumkulturen@uni-saarland.de
Tagungssprachen sind Deutsch, Französisch und Englisch. Im Anschluss an die Tagung ist die Veröffentlichung der Beiträge in einem Sammelband geplant.
Tagungskonzept: Janett Reinstädler / Hannah Steurer / Romana Weiershausen
Homepage: www.traumkulturen.de