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Sammelband "Versehrung verstehen. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven auf physisches und psychisches Erleben in der Gegenwartsliteratur"

Deadline Abstract
28.02.2021
Deadline Beitrag
30.06.2021

CFP für den Sammelband

Versehrung verstehen. Fachwissenschaftliche und fachdidaktische Perspektiven auf physisches und psychisches Erleben in der Gegenwartsliteratur

Wortfeld ‚versehren‘:

1) von äuszerer verletzung des lebenden körpers […].

2) defloratio: violare, gewaltigen und verseren an der jungfrawschafft. […] die ehre einer frau und damit die des ehemanns verletzen […].

3) […] in älterer sprache auf schwärende, eiternde verletzungen oder sonstige schäden der haut bezogen […].

4) vereinzelt passivisch und intransitiv […], krank werden, durch krankheit verderben […].

5) transitiv auf unbelebtes bezogen. verletzen, beschädigen, beeinträchtigen, verderben […];

6) […] das wort bezeichnet innere, schmerzende verletzung, dann verletzung im weitesten sinne des wortes, schädigung, herabsetzung, beleidigung, kränkung, schändung, entehrung u. ä.

(Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: Versehren. In: dies.: Deutsches Wörterbuch. Bd. 12. I. Abteilung: V–Verzwunzen. Bearb. v. Ernst Wülcker u. a. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe 1956. München: dtv 1991, Sp. 1259–1263. Hier Sp. 1260–1262.)

Der Versehrung, folgt man der Definition von Jacob und Wilhelm Grimm, werden zahlreiche mögliche Bedeutungen zugeschrieben: Gewalt‑ und Schmerzerfahrungen, Krankheiten und Traumata, aber auch Formen der Beleidigung oder (Sach‑)Beschädigung sowie Beeinträchtigungen in einem allgemeineren Sinne können im semantischen Nahbereich des Begriffs gesammelt werden. Während andere Bezeichnungen eher Teilaspekte physio-psychischer Erfahrungen erfassen und sich mitunter gegenüberstehen oder ausschließen – etwa ‚Verletzung‘ und ‚Verwundung‘ für körperbezogenes Leid oder ‚Störung‘ für psychische Krisen –, trägt das Konzept ‚Versehrung‘ der Vielschichtigkeit menschlicher Erfahrungswirklichkeit und der engen Verzahnung körperlichen, geistigen und ‚seelischen‘ Erlebens Rechnung. Ausgehend von diesem bewusst weitgefassten Ansatz und anknüpfend an bestehende Forschungsergebnisse zum versehrten Körper und zu Krankheitsdarstellungen in Literatur, Kunst und Medien (vgl. Krüger-Fürhoff 2001; Nitschmann 2015; Röhrs 2016; Standke & Wrobel 2019; Gansel 2013, 2020) möchte der geplante Sammelband die Thematisierung und Inszenierung von Versehrungen in der Gegenwartsliteratur seit 1990 beleuchten und zu einem besseren Verstehen des Phänomens beitragen. Hierbei sollen sowohl fachwissenschaftliche als auch fachdidaktische Analysen berücksichtigt und in einer kulturwissenschaftlich orientierten Betrachtung von Versehrung produktiv zusammengeführt werden.

Motivgeschichtliche Untersuchungen legen offen, dass die Auseinandersetzung mit versehrten Körpern so alt ist wie die Literatur selbst und dass gerade Krankheiten zum festen Themenspektrum der Literatur gehören (vgl. Daemmrich & Daemmrich 1987, S. 200–202; Standke & Wrobel 2019, S. 1). Während Versehrung in der Vergangenheit jedoch meist mit etwas Negativem assoziiert und entsprechend metaphorisiert wurde (vgl. Sontag 1978) und während der versehrte Körper zumeist als „das ‚Andere‘ der schönen Ganzheit“ (Krüger-Fürhoff 2001, S. 7), also als Abweichung von Normen galt, verfolgt der Sammelband die Leitthese, dass solche Dichotomisierungen der vielfältigen Verhandlung von Versehrung in der Gegenwartsliteratur nicht gerecht werden können. Versehrungen und ihre Literarisierungen erscheinen zwar als Indikatoren einer im individuellen wie auch kollektiven Sinne als krisenhaft und gewalttätig erfahrenen Gegenwart. Ein starres Differenzdenken (‚unversehrt – versehrt‘) würde indes verschleiern, dass es sich bei Versehrungen um eine allgegenwärtige Erscheinung handelt, die im gegenwärtigen literarischen Diskurs äußerst vielseitig be‑ und verarbeitet wird. Durch eine reflektierte, differenzierte und innovative Beschäftigung mit Versehrungen vermögen es literarische Texte, auf veränderte und sich stetig verändernde Wahrnehmungen versehrter Menschen hinzuweisen, Verständnis und Empathie für Versehrungserfahrungen zu wecken, für auslösende Faktoren zu sensibilisieren sowie kritische Denkprozesse anzuregen. Versehrungen in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen sollten daher als fester Bestandteil der zeitgenössischen Lebenswelt und ihrer literarischen Repräsentation begriffen werden – und dies nicht erst, seit globale Pandemien eine lange als sicher angenommene Unversehrtheit und Unversehrbarkeit unserer Gesundheit wie auch unseres sozialen Zusammenlebens grundsätzlich in Frage stellen.

Hinsichtlich der verschiedenen Bedeutungsdimensionen von Versehrung sowie einer Fokussierung auf das Verstehen von Versehrung in der Literatur seit 1990 sind im Rahmen eines fachwissenschaftlichen und fachdidaktischen Blickwinkels folgende Fragestellungen denkbar:

  • Welche Aspekte physischer und psychischer Versehrung werden in der Gegenwartsliteratur in welchen Kontexten aufgegriffen und motivisch verarbeitet (Versehrung durch Kriegs‑ und Fluchterlebnisse; Krankheitserfahrungen als Versehrung; Versehrung durch (sexualisierte) Gewalt; Versehrung durch Unfälle und (Natur‑)Katastrophen; Versehrung durch Umweltverschmutzung und Arbeitsbedingungen; Versehrung durch und im Sport; Versehrung als Form von Mobbing; Ausgrenzung und Stigmatisierung aufgrund von Versehrungen)? [themenorientierte und motivgeschichtliche Perspektive]
  • Welche symbolische oder allegorische Bedeutung kommt Versehrungen in der Literatur seit 1990 zu? Welche Verbindungen bestehen zwischen der Literarisierung von Versehrungen und der Reflexion größerer historisch-politischer, gesellschaftlich-sozialer, medizinischer, ökonomischer, philosophischer, religiöser oder allgemein weltanschaulicher Zusammenhänge? [hermeneutische Perspektive]
  • Welche konkreten narrativen und sprachlich-stilistischen Verfahren erlauben eine (vermeintlich) authentische Annäherung an Versehrungen? Durch welche erzählerischen und sprachlichen Mittel kann wiederum eine Auseinandersetzung mit dem Nichtverstehen und der Nichtdarstellbarkeit von Versehrung evoziert werden? [narratologische bzw. form‑ und sprachanalytische Perspektive]
  • Inwiefern sind Repräsentationen von versehrten Figuren anschlussfähig an fachdidaktische Vorstellungen zum literarischen Lernen? Kann die Darstellung von versehrten Figuren zu einer Erweiterung der eigenen begrenzten Weltsicht der Rezipient*innen beitragen? Kann die Literatur der Versehrung in ihrer sozialen Bedeutung zu einem produktiven Dialog über Bezüge zur Realität beitragen? Welchen praktischen Mehrwert kann ein möglichst ‚realistischer‘ Nachvollzug von Versehrungen für Leser*innen haben? [rezeptions‑ und wirkungsästhetische Perspektive]
  • Welche didaktischen Potenziale ergeben sich aus der Repräsentation von Versehrungen in der Gegenwartsliteratur? Inwiefern können Darstellungen von Versehrungen didaktisch fruchtbar und als kultureller Aushandlungsprozess kenntlich gemacht werden? Welche didaktischen Konzeptionen auf der Grundlage von Versehrung sind denkbar, um eine Verständigung über kulturelles Wissen anzustoßen und zu fördern? Welche Rolle spielen metaphorische und symbolische Ausdrucksweisen aus fachdidaktischer Sicht? Gibt es konkrete Unterrichtsmodelle (Best Practice), die die unterrichtliche Behandlung von Literatur der Versehrung vielversprechend erscheinen lassen? [fachdidaktische Perspektive]
  • Wie ist das Verhältnis von Versehrung und Behinderung zu bestimmen? Da das grimmsche Wortfeld von ‚versehren‘ sowohl eine Schädigungs‑ als auch eine Behinderungsebene (im Sinne der gesellschaftlich-sozialen Hervorbringung von Behinderungen und Kränkungen des Individuums) impliziert, kann es produktiv mit dem in den Disability Studies vorherrschenden kulturellen Modell von Behinderung und mit sonderpädagogischen Fragestellungen zusammengedacht werden. [Disability Studies; sonderpädagogische Perspektive]
  • Ist es Literatur über Versehrungen möglich, (Fach‑)Wissen zu generieren? Inwiefern tragen Darstellungen von Versehrungen zu einer Vernetzung verschiedener Diskurse und Wissensfelder bei und zu welchem Mehrwert kann dies führen? Welche Rolle spielen epistemische Überzeugungen (z. B. bei Schüler*innen)? [wissenspoetologische Perspektive]
  • Inwiefern können literarische Texte über Versehrungen sinnvoll im medizinisch-therapeutischen Bereich, etwa zur Behandlung von Krankheiten oder traumatischer Erfahrungen eingesetzt werden? [poesietherapeutische Perspektive]

Abstracts von bis zu einer Seite (für einen Beitrag von max. 35.000 Zeichen inkl. Leerzeichen) werden bis zum 28.02.2021 erbeten. Die Abgabe der fertigen Beiträge soll bis zum 30.06.2021 erfolgen. Bitte senden Sie Ihr Abstract mit einem kleinen wissenschaftlichen Biogramm per E-Mail an:

 

Söhnke Post (Leibniz Universität Hannover):
soehnke.post@germanistik.uni-hannover.de

und

Steffen Röhrs (Leibniz Universität Hannover):
steffen.roehrs@germanistik.uni-hannover.de

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literaturdidaktik, Stoffe, Motive, Thematologie
Gegenwartsliteratur ; Versehrung

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Einrichtungen

Leibniz Universität Hannover (LUH)
Datum der Veröffentlichung: 07.12.2020
Letzte Änderung: 07.12.2020