CfP/CfA Veranstaltungen

Realistische Moderne – modernistischer Realismus. Verhältnis von Verfahren und Epoche (nicht nur) bei Thomas Mann

Beginn
24.11.2023
Ende
25.11.2023
Deadline Abstract
10.07.2023

Tagung an der Universität Münster, 24.–25. November 2023

Tagungsorganisation: Jan Hurta, Michael Navratil, Maike Neumann

 

Dass Thomas Mann zu den bedeutendsten deutschsprachigen Erzählern des 20. Jahrhunderts zählt, ist weithin Konsens. Ob Thomas Mann allerdings als ein genuin moderner Autor – vergleichbar etwa mit Kafka, Joyce oder Döblin – gelten könne, bildet seit Langem einen Streitpunkt der germanistischen Forschung. Bemühungen, die Modernität von Thomas Manns Werk herauszustellen, verweisen etwa auf die Collagetechnik gerade in seinem späteren Werk, auf seinen Einsatz von Ironie oder den Multiperspektivismus seiner Romane. Wird Thomas Mann hingegen eine (mehr als nur zeitliche) Zugehörigkeit zur Moderne abgesprochen, so geschieht dies häufig unter Verweis auf den Realismus seiner Texte: Anders als in Texten der historischen Avantgarden fehlt bei Thomas Mann der Wille zur anti-realistischen Formzertrümmerung, zur Fragmentierung und zur Dezentrierung des Sinns, sodass seine Ästhetik letztlich – so die These – eher die Erzähltradition des 19. Jahrhunderts fortsetzt, anstatt am genuin eigenen Diskurs der literarischen Moderne zu partizipieren.

Dass allerdings die Avantgarden die einzig ästhetisch adäquate Reaktion auf die gesellschaftliche Erfahrung der Moderne darstellen, ist eine These, die möglicherweise allzu leichtfertig Wertungskriterien der historischen Avantgarden selbst übernimmt. Thomas Mann jedenfalls stand der Ansicht, ästhetische Modernität und literarischer Avantgardismus seien schlicht koextensiv, kritisch gegenüber. In dem Essay Die Unbekannten schreibt er:

 

Die Psychologisierung und Europäisierung der deutschen Prosa durch den Naturalismus und durch Nietzsche; die Wiederentdeckung des Dichterischen überhaupt [...] schließlich auch all das, was durch die deutsche Erzählung für die Kultur des bürgerlichen Ausdrucks geleistet ist [ ... ]: mir scheint, das war mehr Erneuerung, Schollenumbruch, Revolution als das bißchen Tempo, Dynamik, Kinotechnik und Bürgerfresserei, womit unser Nachwuchs uns vergebens in bleiche Wut zu treiben sucht. (XI, 754)

 

Berührt ist damit die Frage, worin genau ‚Erneuerung, Schollenumbruch, Revolution‘ einer Poetik bestehen können, die sich formal weiterhin den Verfahren realistischen Erzählens verpflichtet sieht. Welches sind die spezifisch modernen Potenziale des Realismus? Kann es gar, in Abgrenzung zu der These einer literarhistorisch notwendigen Ablösung des (Poetischen) Realismus durch eine avantgardistische Kunst, einen modernistischen Realismus geben?

Zwecks Diskussion dieser und verwandter Fragen lädt das Sprecher*innen-Team des Jungen Forums Thomas Mann der Deutschen Thomas Mann-Gesellschaft in Kooperation mit der Universität Münster von 24. bis zum 25. November zu einer Tagung nach Münster ein. Gemeinsam wollen wir den Versuch unternehmen, Realismus und Moderne/Modernismus gerade nicht als einander ausschließende Konzepte zu begreifen, sondern im Gegenteil nach ihren mutualen Konvergenzen, ästhetisch produktiven Kombinationen und wechselseitigen literarhistorischen sowie verfahrensmäßigen Abhängigkeiten zu fragen. Der Titel-Chiasmus „Realistische Moderne – modernistischer Realismus“ verweist dabei auf die Vielzahl möglicher Kopplungen zwischen realistischen respektive modernistischen Erzählverfahren einerseits und den (Literatur‑)Epochen des Realismus und der Moderne respektive der verschiedenen ‚Modernen‘ (Makromoderne, Klassische Moderne, Postmoderne, Neo-Moderne etc.) andererseits. Die geplante Tagung knüpft damit an zwei Stränge der jüngeren literatur‑ und kulturwissenschaftlichen Diskussion an: nämlich an den Fokus auf unterschiedliche Konzeptualisierungen des Realismus einerseits (Populärer Realismus, Neuer Realismus in Philosophie und Gegenwartsliteratur, Spekulativer Realismus) sowie andererseits an das gesteigerte Interesse an spezifischen literarischen Verfahren als definierende Gegenstände der Literaturgeschichtsschreibung. Fragen, denen im Rahmen der Tagung nachgegangen werden soll, umfassen etwa die folgenden:

 

  • In welchem Verhältnis stehen Werk und Poetik der realistischen Autoren der Moderne (neben Thomas Mann etwa Stefan Zweig, Arthur Schnitzler, Lion Feuchtwanger, Hermann Hesse, Erich Kästner, Vicki Baum, Irmgard Keun) zu Werk und Poetik von Autoren an der literarhistorischen Grenze zwischen Poetischem Realismus und Moderne (etwa Gerhart Hauptmann, Wilhelm Raabe oder auch bereits Adalbert Stifter)?
  • Inwiefern konvergiert oder divergiert die Darstellung spezifisch moderner Phänomene (Großstadt, Massenunterhaltung, die beiden Weltkriege etc.) im Rahmen realistischer Erzählverfahren mit der Verhandlung derselben Phänomene im Rahmen avantgardistischer Erzählverfahren?
  • Welche Brüche realistischer Erzählverfahren lassen sich in der dominant realistisch erzählten Prosa der Klassischen Moderne identifizieren? Wie integrieren und problematisieren realistisch erzählte Texte etwa Erzählphänomene wie das unzuverlässige Erzählen, metaleptische Sprünge in der Erzählebenen oder die Fantastik?
  • Wie lassen sich nicht-literaturwissenschaftliche Begriffe des Realismus einerseits (etwa bei Markus Gabriel, Quentin Meillassoux, Umberto Eco) und der Moderne andererseits (bei Ulrich Beck, Zygmunt Bauman, Hartmut Rosa, Bruno Latour) zur Charakterisierung der literarischen Moderne respektive eines modernistischen, literarischen Realismus produktiv machen? Anders gefragt: Welche ‚Arten‘ von Realismus/Moderne finden Eingang in die Literatur – und welche künstlerischen Verfahren kommen hierbei jeweils zum Einsatz?
  • Welche Funktion erfüllen die von Literaturkritik und Feuilleton seit vielen Jahren geradezu reflexhaft hergestellten Vergleiche zwischen realistischen Erzählern der Gegenwart und Thomas Mann? Welche Bedeutung kommt der realistischen Prosa der Moderne generell als normative Referenzgröße für die zeitgenössische Literaturkritik zu?
  • Welche verfahrensmäßig oder poetologisch schlüssigen Konstellationen lassen sich herstellen zwischen realistischen Erzählern der Moderne und (neo‑)realistischen Erzählern der Gegenwart? In welchem Verhältnis stehen Poetischer Realismus, moderner/modernistischer Realismus und Neo-Realismus zueinander?
  • Die (vermeintliche) poetologische Frontstellung zwischen Modernismus und Realismus ist mittlerweile über einhundert Jahre alt, die historischen Avantgarden sind selbst mächtig in die Jahre gekommen. (Wie) Hat sich die poetologische Diskussion in dieser Zeit weiterentwickelt? Welche produktiven Reflexe erfahren klassische Positionen der Realismus-Modernismus-Debatte – etwa diejenigen von Bertolt Brecht, Georg Lukács oder Theodor W. Adorno – in der aktuellen Literaturtheorie? Und umgekehrt: Wie korrekturbedürftig oder auch schlichtweg veraltet erscheinen derartige Positionen im Hinblick auf literarische und literaturtheoretische Entwicklungen der Gegenwart?

 

Wie der Untertitel der Tagung anzeigt, gilt der besondere Fokus der Tagung dem Werk Thomas Manns. Darüber hinaus sollen die Fragen der realistischen Moderne respektive des modernistischen Realismus aber auch in einem größeren Kontext sowie mit Blick auf andere Autorenwerke diskutiert werden. Besonders willkommen sind entsprechend Beiträge, die Konstellationen eröffnen zwischen der realistischen Ästhetik Thomas Manns und den Realismen anderer Autoren respektive zwischen verschiedenen, möglicherweise auch konkurrierenden Realismus‑ und Modernekonzepten – und zwar ganz ausdrücklich auch mit Blick auf die Gegenwart.

Die geplanten Vorträge sollten eine Dauer von 30 Minuten haben. Abstracts von maximal einer Seite Umfang plus bio-bibliografische Informationen sind bis zum 10. Juli 2023 zu senden an info@junges-forum-thomas-mann.de. Reise‑ und Hotelkosten können in begrenztem Umfang übernommen werden. Eine Publikation der Beiträge in Form eines Sammelbandes ist geplant.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Literaturgeschichtsschreibung (Geschichte; Theorie), Poetik, Literatur des 19. Jahrhunderts, Literatur des 20. Jahrhunderts

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Ansprechpartner

Einrichtungen

Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU)
Datum der Veröffentlichung: 02.06.2023
Letzte Änderung: 02.06.2023