Germanistentag 2022, Panel Prekäre Literaturen – Mehrdeutigkeit in Kanon und Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts
Doppelpanel auf dem 27. Deutschen Germanistentag, 25. bis 28. September 2022, Themenbereich 2: Phänomenorientierte Zugänge
Organisation: Maren Conrad (FAU Nürnberg Erlangen), Stefan Tetzlaff (Göttingen)
Literaturwissenschaftliche Texterschließung arbeitet wesentlich mit der Kontextualisierung durch literaturgeschichtliche Verortung. Der Bezug eines Textes zum Literatursystem, in dessen Rahmen er entsteht, ist eine grundlegende Praxis der Einschränkung von Mehrdeutigkeit. Zugleich erweisen sich Modelle von Epochen, Strömungen und Literatursystemen als hochgradig selektiv (vgl. die Debatte um Kanonisierung (Winko 1998) und eine Kanonrevision (Schneider 2005)), da diese doch immer am Zentrum eines bestehenden (Epochen-)Kanons ausgerichtet sind. Mithin ist Mehrdeutigkeit keine auf den Einzeltext beschränkte Eigenschaft, sondern betrifft auch (und in hohem Maße) die Dynamiken von Periodisierungseinheiten. Literarische Mehrdeutigkeit kann daher als Problematisierung von Epochenmodellen begriffen werden und als Effekt ihrer Tendenz zur Komplexitätsreduktion entstehen. Diese Annahme gilt in besonderem Maße für das literaturgeschichtliche Bild des 19. Jahrhunderts. Eine Relektüre der Texte dieser Phase zeigt, dass gegenwärtige literaturgeschichtliche Modelle das zeitgenössische Feld verzerrt und an vielen Stellen nur lückenhaft abbilden (Lauster 2003).
Das DFG-Netzwerk ‚Prekäre Literaturen‘, aus dem der Panelvorschlag hervorgeht, befasst sich mit solchen Periodisierungslücken sowie entsprechend vergessenen Texten und der Frage, wie speziell der Zeitraum 1830–1900 literaturgeschichtlich neu zu kartographieren ist, wenn ursprünglich relevante, als prekär ausgeblendete (Erzähl-)Texte neu in die Modellierung einer Epoche mit einbezogen werden (Tetzlaff 2018). Die Frage, wie das literarische Feld der Zeit jenseits selektiver Kanonisierungsprozesse beschaffen war, ist insofern zentral, als sie sowohl die universitäre literaturwissenschaftliche Analyse betrifft als auch die schulische Lektüre. Speziell letztere erhält durch die beschriebene Neusichtung die Möglichkeit, den klassischen Kanon neu zu lesen respektive vergessene, aber zeitgenössisch prägende Texte zu entdecken (Conrad 2020).
Das Panel fragt nach Texten des genannten Zeitraums, deren Wiederentdeckung das gegenwärtig vermeintlich eindeutige Bild des Literatursystems modifiziert und Mehrdeutigkeiten literarhistorischer Modellierung sichtbar macht.
Vorschläge (max. 300 Wörter) für Vorträge à 20 Min. und ein kurzer wissenschaftlicher CV werden bis zum 15.07.2021 erbeten an: maren.conrad@fau.de und stefan.tetzlaff@uni-goettingen.de.