CfP/CfA Veranstaltungen

Gender und Diversität in den Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit, Würzburg

Beginn
13.09.2023
Ende
15.09.2023
Deadline Abstract
31.03.2023

Gender und Diversität in den Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit

(Toepfer, Burschel, Wesche)

Übersetzende sind keine körper- und geschichtslosen Wesen. Sie schreiben sich selbst, ihr eigenes subjektives Verständnis sowie kulturell dominante soziale und sexuelle Normen dem übersetzten Text ein und richten sich dabei an spezifische Zielgruppen, die aus Menschen mit bestimmten Identitätsmerkmalen bestehen. Die philologische Utopie einer ‚treuen‘ Übersetzung, die den Ausgangstext ohne Abweichung wiedergibt, hat den Blick für hierarchisierende und gendernormierende Praktiken des Übersetzens lange verstellt. Damit einher ging eine Marginalisierung der Übersetzenden, deren Tätigkeit als sekundär, rezeptiv und passiv abgewertet oder nicht einmal wahrgenommen wurde. Dieses Phänomen, das Lawrence Venuti in ‚The Translator’s Invisibility‘ (1995) systematisch ausleuchtet, begegnet bei Akteuren, die einer marginalisierten Gruppe angehören, in potenzierter Form: diese sind sowohl in ästhetisch-poetischer als auch in soziokultureller Hinsicht minderprivilegiert.

Die 5. Jahreskonferenz des SPP 2130 ‚Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit‘ rückt Gender und Diversität daher ins Zentrum und fragt nach den wechselseitigen Bezügen von Übersetzung und Geschlecht in der Frühen Neuzeit: Inwiefern beeinflussen kulturell geprägte Identitätskonzepte und Gruppenzugehörigkeiten die Tätigkeit des Übersetzens und umgekehrt: In welcher Weise tragen frühneuzeitliche Übersetzungen zur Etablierung von sozialen Werten und genderspezifischen Idealen bei? Doch auch gegenläufige Verfahren des Übersetzens sind denkbar, die gesellschaftliche Normen durch Verweise auf anerkannte Autoritäten und normativitätskritische Interpretationen eines Ausgangstexts konterkarieren und unterminieren. Im Anschluss an Judith Butlers ‚Gender Trouble‘ (1990) und ihre Theorie zur Performativität des Geschlechts lässt sich Übersetzen als ein Prozess verstehen, bei dem gendernormierende Akte im Sinne eines ‚Translating Gender‘ reproduziert, stabilisiert, aber auch kritisiert werden. In systematischer Hinsicht sind drei verschiedene Zugriffe auf das Tagungsthema zu unterscheiden:

1. Akteurszentrierter Ansatz: Wer übersetzt in der Frühen Neuzeit? In welcher Weise sind Männer und Frauen, aber auch andere sozial minderprivilegierte Menschen, an der für die Epoche typischen Übersetzungstätigkeit beteiligt? Lassen sich methodische, konzeptionelle, thematische, inhaltliche oder materiale Unterschiede zwischen den Übersetzungen männlicher und weiblicher Akteure ausfindig machen? Wie wirken sich Herkunft, Religion, Bildung und Alter in ihren wechselseitigen Verschränkungen auf Translate und die Praktiken des Übersetzens aus?
 

Erste Impulse für eine genderorientierte Übersetzungsgeschichte gingen von der Frauen- und Geschlechterforschung aus, die sich auf eine Spurensuche nach weiblichen Akteuren begab und die Namen, Werke und Leistungen von Übersetzerinnen sichtbar machte. Noch immer ist die Identifikation, Erfassung und Untersuchung von Übersetzerinnen eine zentrale Aufgabe der Frühneuzeitforschung (jüngst Brown 2022). Vor dem Hintergrund der neueren Gender Theorien und der historischen Intersektionalitätsforschung gilt es diesen Ansatz weiterzuentwickeln, weder weibliche noch männliche Übersetzer nicht als homogene Gruppe zu betrachten, sondern andere Identitätskategorien in die Analyse einzubeziehen und die Diversität von Übersetzenden herauszuarbeiten. Zu untersuchen ist auch, ob und ggf. inwiefern sich eine Korrelation zwischen Geschlecht, Herkunft und Religion der Übersetzenden und dem Gegenstand der Übersetzung beobachten lässt. Gibt es bestimmte Inhalte, Textsorten und Praktiken des Übersetzens, die ausschließlich männlichen oder bevorzugt weiblichen Akteuren vorbehalten waren? Möglicherweise lassen sich auf diese Weise gendertypische Profile von Übersetzerinnen und Übersetzern in der Frühen Neuzeit erarbeiten, die es erlauben, primär männlich geprägte Forschungskonzepte wie das des ‚cultural broker‘ aufzufächern und in ihrer Vielgestaltigkeit genauer zu konturieren.

2. Theoretisch-reflexiver Ansatz: Welche Gendervorstellungen werden in den Übersetzungsreflexionen thematisiert, transportiert und variiert? Wie sprechen Übersetzende über ihre Tätigkeit, über Inhalte und Methoden des Übersetzens, über ihre eigene geschlechtliche, sexuelle, religiöse und/oder regionale Identität oder die anderer, insbesondere intendierter Rezipierender, aber möglicherweise auch über die Gruppenzugehörigkeit von übersetzten literarischen Figuren bzw. künstlerischen Produktions- und Repräsentationsinstanzen?
 

In einem für die feministischen Translation Studies grundlegenden Artikel stellte Lori Chamberlain (1988) heraus, dass Übersetzungsreflexionen und -theorien überraschende Übereinstimmungen mit dem seit der Antike dominierenden Genderdiskurs aufweisen. Der Dichotomie von Original und Übersetzung liegen dieselben Denkkonfigurationen und hierarchisierenden Wertungen von Aktivität/Passivität bzw. Produktivität/Rezeptivität zugrunde wie dem binären Modell Mann/Frau. Wie Übersetzungskonzepte am Genderdiskurs partizipieren, zeigt etwa der moralisch aufgeladene Topos ‚Belle infidéle‘, durch den weibliche Untreue problematisiert und skandalisiert wird, wohingegen männliches Sexualverhalten kaum gesellschaftlichen Sanktionen unterliegt. Die genderspezifische Hierarchisierung und eine verdeckte Normierung lassen sich ebenso in der einflussreichsten übersetzungstheoretischen Schrift der Frühen Neuzeit in deutscher Sprache beobachten. Martin Luther plädiert in seinem ‚Sendbrief vom Dolmetschen‘, für ein Übersetzungsideal, das sich an der Zielkultur orientiert und die lateinische Schriftlichkeit auch im Bereich der Bibelübersetzung durch volkssprachige Mündlichkeit ersetzt. Indem Luther fordert, dem Volk aufs Maul zu schauen, entwirft er beiläufig auch ein protestantisches Ehe- und Familienideal: Der auf dem Markt sprechende Mann betätigt sich politisch, die Frau wird der Sphäre des Hauses zugeordnet, und die Kinder befinden sich in einem Übergangsstadium, spielend auf der Gasse. Während in vielen Widmungsbriefen und Vorworten zu frühneuzeitlichen Übersetzungen implizit Gendernormen vermittelt werden, reflektieren einige Übersetzerinnen des 18. Jahrhunderts ihre Geschlechterrolle auch explizit oder nutzen die Lizenzen, die ihnen der autoritative Status ihres Ausgangstexts verleiht, um subtil gesellschaftskritische Positionen zu beziehen, wie Angela Sanmann in der Studie ‚Die andere Kreativität‘ (2021) zu Luise Gottsched, Marie-Élisabeth de La Fite, Sophie von La Roche und Marianne Wilhelmine de Stevens offenlegt.

3. Komparatistischer-produktbezogener Ansatz: Welche sozial marginalisierenden bzw. privilegierenden Akzentverschiebungen lassen sich zwischen Vorlage und Translat beobachten? Wie modellieren Übersetzende Gender- und Identitätskonzepte und schreiben Werte- und Normenvorstellungen ihrer eigenen Zeit dem Zieltext ein? Inwiefern lassen sich Verfahren der Dekonstruktion beobachten, die das Verhältnis von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft subvertieren und Binaritäten in Frage stellen?
 

Mit philologischen und ikonographischen Detailstudien lässt sich rekonstruieren, wie Übersetzende in der Frühen Neuzeit an Konzepten von Männlichkeit, Weiblichkeit, Elternschaft, Sexualität, Alter, Gesundheit etc. arbeiten, um ihre Vorlagen den zielkulturellen Leitvorstellungen anzupassen. So werden antike Heroinen von den volkssprachigen Ovid-Übersetzern des 16. Jahrhunderts in frühneuhochdeutsche ‚Hausfrawen‘ verwandelt, die als role model einer treuliebenden, frommen und fleißigen Gemahlin und Mutter präsentiert werden (vgl. Toepfer 2021). Solche kulturellen Filter, moralische Interpretationen und pädagogischen Zensurmaßnahmen begegnen besonders bei Übersetzungen, die sich an ein weibliches Publikum richten. Beispielsweise kündigt Jörg Wickram im Vorwort zu den deutschsprachigen ‚Metamorphosen‘ an, seinen Ausgangstext so bearbeitet zu haben, dass er auch von Frauen und Jungfrauen ohne Gefahr gelesen werden könne. Die Übersetzung von sexuellen, erotischen und das Geschlechterverständnis betreffenden Angelegenheiten ist besonders heikel, wie der spanische Translationswissenschaftler José Santemila (2014, S. 104) betont: „Translating the language of love or sex is a political act, with important rhetorical and ideological implications, and it is fully indicative of the translator’s attitude towards existing conceptualisations of gender/sexual identities, human sexual behaviour(s) and society’s norms.“

Die 5. Jahreskonferenz des SPP 2130 findet in Würzburg statt und lädt dazu ein, sich aus interlingualer und intermedialer, anthropologischer und epistemischer sowie kultureller und sozialer Perspektive mit Gender und Diversität in den Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit auseinanderzusetzen. Willkommen sind sowohl Beiträge, die sich aus methodisch-theoretischer Perspektive mit dem Thema beschäftigen als auch konkrete Fallstudien, die individuelle Biographien, kulturelle Rahmenbedingungen und soziale Restriktionen von Übersetzenden minderprivilegierter Gruppen untersuchen, die körperbezogene und hierarchisierende Übersetzungsreflexionen analysieren oder die Kategorie Geschlecht in ihren intersektionalen Verschränkungen mit Stand, Herkunft, Religion, Bildung und Alter in frühneuzeitlichen Übersetzungen exemplarisch untersuchen. Ziel der Tagung ist nicht nur, Gender und Diversität als Analysekategorien für die frühneuzeitlichen Übersetzungskulturen fruchtbar zu machen, sondern auch für ihre essentielle Bedeutung in der historischen wie in der gegenwärtigen Übersetzungspraxis und Übersetzungsforschung zu sensibilisieren.

Zitierte Literatur

Serena Bassi: Gender. In: Routledge Encyclopedia of Translation Studies, ed. Mona Baker / Gabriela Saldanha, London 32020, S. 204–208.

Hilary Brown: Women and Early Modern Cultures of Translation. Beyond the Female Tradition. Oxford 2022.

Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity. London 1990.

Lori Chamberlain: Gender and the Metaphorics of Translation. In: Signs: Journal of Women in Culture and Society 13 (1988), S. 454–472.

Luise von Flotow: Feminist Translation Strategies. In: Routledge Encyclopedia of Translation Studies, ed. Mona Baker / Gabriela Saldanha, London 32020, S. 181–184.

José Santaemilia: Sex and Translation: On Women, Men and Identities. In: Women’s Studies International Forum 42 (2014), S. 104–110.

Regina Toepfer: Von Heroinen und ‚Hausfrawen‘. Genderspezifische Normenvermittlung in Johannes Sprengs deutscher Metamorphosen-Übersetzung (1564). In: Mediävistische Perspektiven im 21. Jahrhundert. Festschrift für Ingrid Bennewitz zum 65. Geburtstag, ed. Andrea Schindler, Wiesbaden 2021, S. 99–111.

Angela Sanmann: Die andere Kreativität. Übersetzerinnen im 18. Jahrhundert und die Problematik weiblicher Autorschaft. Heidelberg 2021 (Euphorion, Beihefte 113).

Lawrence Venuti: The Translator’s Invisibility. A History of Translation. London; New York 1995.

  

Wir bitten um die Einsendung von Titel und Abstract (900–1.800 Z. inkl. LZ) auf Deutsch oder Englisch bis zum 31. März 2023 an Annkathrin Koppers (spp2130@uni-wuerzburg.de).

  

Zeitplan

Bis 31.03.2023                  Einsendung von Vortragsabstracts

Bis 15.05.2023                   Zusagen an Referent:innen

13.–15.09.2023                 Jahreskonferenz in Würzburg (Burkardushaus)

Bis 31.01.2024                   Abgabe der Beiträge für den Tagungsband

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Dekonstruktion, Gender Studies/Queer Studies, Übersetzung allgemein, Übersetzungstheorie, Literatur der Frühen Neuzeit (14. und 15. Jh.), Literatur des 16. Jahrhunderts, Literatur des 17. Jahrhunderts, Literatur des 18. Jahrhunderts

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Datum der Veröffentlichung: 03.03.2023
Letzte Änderung: 03.03.2023