CfP/CfA Publikationen

Celan-Perspektiven 2022 – Sexualität und Daseinsentwurf in Celans Dichtung

Deadline Abstract
01.07.2022
Deadline Beitrag
01.09.2022

Die Celan-Forschung in ihren Anfängen in den 1960er Jahren konzentrierte sich nach der Zeit der Verdrängung der Shoah in der Adenauer-Ära notwendigerweise vor allem auf den Aspekt des Totengedenkens. Dabei wurden andere dominante Charakteristika ausgeblendet. Dazu gehört etwa der in den Gedichten ebenfalls intensiv wie extensiv präsente Komplex des Begehrens und der Sexualität und dessen Bedeutung für den Entwurf der eigenen Existenz – gemäß des poetologischen Credos Celans von Gedichten als ‚Daseinsentwürfen‘. Schon in einer 1947 auf Rumänisch verfassten poetologischen Prosaskizze bezeichnet sich Celan selbst als „Partisan des erotischen Absolutismus“ (nach GW 6: 195). In Hinblick auf die häufig als problematisch erscheinenden erotischen wie dialogischen Beziehungskonstrukte partizipiert Celan an einer Tendenz der Lyrik des 20. Jahrhunderts, die von der Jahrhundertwende über den Expressionismus mit Benn, Lasker-Schüler oder Brecht bis hin zur französischen Avantgarde reicht und die eine neue Relationierung der Geschlechterbeziehungen jenseits der Klischees romantischer Liebe skizziert hat.

Das eigentliche, aber von der Forschung immer noch nicht genügend gewürdigte Skandalon der Gedichte Celans ist die unentwirrbare Verschlingung von elegischem und sehr explizit erotischem Duktus; sie sind Vergegenwärtigung der Shoah und Liebesdichtung zugleich, und dies im Zeichen existenzieller wie poetischer Selbstversicherung, die im Laufe des Werkes zunehmend provokativ und destruktiv hervortritt. Mit Blick auf die ethischen Implikationen spricht Timothy Boyd daher von einer „Verpflichtung, den lyrischen Liebesakt als Eingedenken im Angesicht der Shoah zu gestalten“. Das gilt schon für frühe Beispiele wie etwa das die Beziehung zu Ingeborg Bachmann beschwörende Corona, setzt sich in der mittleren Werkphase fort, etwa in der erschütternden Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zu Brigitta Eisenreich in Radix, Matrix, und kommt im Spätwerk, so im Ilana-Zyklus, in solchen Gedichten wie Die Pole in einer kühnen Verschachtelung von topographisch-topologisch referenzialisierten messianischen Hoffnungen und liebesutopischen Momenten nochmals voll zum Tragen. Dabei lässt sich allerdings nicht immer von der Hand weisen, dass solche Projektionen den Adressatinnen Rollen zuweisen, die primär von Celans eigenen Bedürfnissen bestimmt gewesen sind.

Wesentlicher als die biographischen Rückbezüge erscheinen jedoch die poetologischen wie poetischen Konsequenzen, die sich in der spezifischen Art der Darstellung und dem Stellenwert der Sexualität in den Gedichten niederschlagen, die Celan ja als „Daseinsentwürfe“ verstanden wissen wollte. Das intendierte Forum der Celan-Perspektiven 4 (2022) widmet sich mittels exemplarischer Analysen dem Ausloten des Zusammenhangs von Selbstverhältnis und Sexualität in Celans Dichtung und soll ein Versuch sein, die unterschiedlichen Facetten und Anknüpfungspunkte dieses wesentlichen Motivkomplexes stärker ins Bewusstsein des Publikums zu rücken. Es geht dabei um die Erörterung von Fragen wie den folgenden: 

 

  • Ist Sexualität eine für das in Celans Texten entworfene Selbstverhältnis entscheidende Kategorie im Sinne von Foucaults Definition der Sexualität als Diskurs? Und welcherart wären dann die biographischen, poetologischen oder philosophischen Dimensionen dieses Diskurses? 
  • Auf welche Weise ist die Dualität des Männlichen und Weiblichen ein zentrales Moment der Dichtung Celans? Mit welchen sprachlichen Mitteln wird dies gestaltet, etwa auch hinsichtlich der dialogischen Auffassung von „Ich und Du“ (Buber)? Wo sind Momente der Aufweichung des Binären erkennbar – etwa in Verschiebungen und Umcodierungen (z.B. NKG 184: „ich, der Durchbohrte“)? Welche Relevanz haben ambivalente Besetzungen des Geschlechts und was resultiert daraus für die Problematik von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Texten? Gibt es Anknüpfungspunkte für die Möglichkeit eines ‚Queer Readings‘ in den Texten Celans?
  • Inwieweit ist die Codierung und Verknüpfung von Männlichkeit und Weiblichkeit auch mit kabbalistischen Vorstellungen verbunden und so Teil oder gar Substitut für messianische Vorstellungen („Schechina“). Hier geht es um poetische Denkfiguren – oder, mit Benjamin gesprochen, um „Denk-Bilder“: Wie werden Liebesverhältnisse als Ausdruck oder Deutung der kabbalistischen Dualität wahrgenommen, in der äußerste Gefahr und äußerste Hoffnung zugleich umschlossen liegen? Und wie ließe sich dies deuten: Wird die symbolisch verkörperte Beziehung zwischen der „Schechina“ und dem „Gerechten“ durch den Bezug auf die real sexuelle Vereinigung profaniert oder wird die Liebesbeziehung metaphysisch aufgeladen?
  • Welche medialen Öffnungen ergeben sich aus der Darstellung der Geschlechterbeziehungen anknüpfend an Celan? Dies gilt natürlich für Celans eigenen Dialog mit der graphischen Kunst seiner Frau Gisèle Celan-Lestrange, aber auch für später erfolgende Anschlüsse z.B. in der bildenden Kunst, etwa bei Anselm Kiefer und Alexander Polzin, oder in der Musik bei Wolfgang Rihm oder Peter Ruzicka.

Bitte senden Sie Beitragsvorschläge von ca. 500 Wörtern mit kurzen bio-bibliographischen Angaben zu Ihrer Person bis zum 1.7.2022 an Prof. Dr. Bernd Auerochs (bauerochs@ndl-medien.uni-kiel.de). Die Deadline für die fertigen Beiträge zur Veröffentlichung in den Celan-Perspektiven 4 (2022) ist der 1.9.2022.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Feministische Literaturtheorie, Gender Studies/Queer Studies, Poetik, Lyrik allgemein, Literatur des 20. Jahrhunderts
Paul Celan

Ansprechpartner

Beitrag von: Diego León-Villagrá
Datum der Veröffentlichung: 07.06.2022
Letzte Änderung: 09.06.2022