CfP/CfA Veranstaltungen

Symbolische Gewalt in der Literatur des Mittelalters, Zürich


Veranstaltungsdatum:

01.10.2026-03.10.2026

Deadline Abstract:

31.08.2025

Gewalt ist im Medium der Literatur stets symbolisch vermittelt – das gilt in besonderem Maße für die Literatur des Mittelalters. Von tätlichen Beleidigungen wie dem Peitschenhieb des Zwergs im Erec bis hin zu den Zweikämpfen vorausgehenden Reizreden in der Heldenepik wird Gewalt nicht nur zeichenhaft dargestellt, sondern darüberhinaus in ihrer zeichenhaften Dimension thematisiert. Unsere Tagung, die vom 1. bis 3. Oktober 2026 an der Universität Zürich stattfinden wird, möchte dazu einladen, derartige Szenen unter Rückgriff auf und in Weiterentwicklung des in den Kulturwissenschaften diskutierten Begriffs der „symbolischen Gewalt“ genauer zu analysieren. 

Die mediävistische Forschung hat sich bisher einerseits auf die literarische Darstellung und Diskursivierung von direkter körperlicher Gewalt konzentriert (vgl. z.B. Braun/Herberichs 2005, Dietl/Knäpper 2014). Andererseits rückten auch Formen der sprachlichen Gewalt in den Fokus (vgl. Eming/Jarzebowski 2008, Garnier 2021), wie etwa die Hassrede (vgl. Philipowski/Rüthemann 2024) oder Polemik (vgl. Suerbaum/Southcombe/Thompson 2015). Wir möchten insbesondere bei der kultur-, geschichts- und sozialwissenschaftlichen Forschung ansetzen, die jüngst unter dem Begriff der „Invektivität“ vorgeschlagen hat, die sozial-kommunikative Dimension von Gewalt in den Blick zu nehmen (vgl. konzeptualisierend Ellerbrock u.a. 2017, Schwerhoff 2020). Während Arbeiten zu Antike und früher Neuzeit durch diese Perspektive zu wichtigen Aufschlüssen kamen (vgl. z.B. Pausch 2021, Dröse 2021, Israel/Kraus/Sasso 2021, Kraus 2022), wurde die Literatur des Mittelalters diesbezüglich bislang nur punktuell berührt (so z.B. durch Böhme 2021, Frick 2024, Sahm 2025). Hier möchten wir lückenschließend ansetzen. 

Dazu schlagen wir vor, Gewalt in literarischen Texten grundsätzlich als zeichengebundenes Handeln zu begreifen, das in kommunikative Kontexte eingebettet ist. Aspekthaft lassen sich dabei Formen körperlicher Gewalt und symbolischer Gewalt trennen – mit Blick auf ihre Voraussetzungen, Erscheinungsformen und Wirkungen, die je nach historischem Kontext unterschiedlich gewichtet werden können. In Anlehnung an die Gesichtstheorie (Goffman 1967) oder das Modell der „Doppelkörperlichkeit“ (Krämer 2007; 2010) lässt sich dabei von einer partiellen Analogie zwischen symbolischer und physischer Gewalt ausgehen: Während physische Gewalt den Leib des Gegenübers verwundet, verletzt symbolische Gewalt dessen sozialen Körper – sie richtet sich etwa gegen Ehre, Reputation oder Status. Zumeist werden körperliche und symbolische Gewalt in der mittelalterlichen Literatur freilich nicht als Gegensätze dargestellt, sondern vielmehr als komplementäre Aspekte intendierter Versehrung, die in komplexen Konstellationen z.B. der Überschneidung, Überformung, Ergänzung, Auslösung, Amplifikation oder Ersetzung stehen. Diesen Relationen will die Tagung nachgehen.

Um den Begriff der symbolischen Gewalt dabei nicht beliebig auszuweiten, schlagen wir vor, die Diskussion auf solche Texte und Textstellen zu begrenzen, in denen zeichenbasierte Akte spezifische Verletzungswirkungen zeitigen. Auf Ebene des Dargestellten wird beispielsweise oft über charakteristische Affekte (wie leit, unêre, schâme o.ä.), soziale Verortungen oder topische Figurenreaktionen von den Verletzungen eines sozialen Körpers erzählt. Auf der Ebene der Darstellung hingegen werden Gewaltwirkungen meist stärker rhetorisch figuriert, so durch invektive Verfahren der Polemik, des sprachlich virtuosen Beleidigens oder der Scheltrede (vituperatio). Das Feld symbolischer Gewalt soll auf diese Weise von den Texten her allererst vermessen werden.

Zugleich soll allerdings nicht vorausgesetzt werden, dass symbolische Gewalt ausschließlich in heterotelischer Funktion – also lozierend ausgerichtet auf das Soziale – anzutreffen ist. Gerade literarische Texte legen vielmehr nahe, dass symbolischer Gewalt auch eine autotelische und ästhetisch motivierte Dimension zukommt. Neben Aspekten der sozialen Interaktion soll deshalb auf der Konferenz auch der Eigenlogik einer Ästhetik der Gewalt Rechnung getragen werden, zu der etwa die Schreibweisen der Drastik und der Groteske gehören, ebenso wie die Intertextualität und Gattungshaftigkeit von Gewalt oder die eskalative Kraft einer Hyperbolik der Gewaltdarstellung. Manchmal lassen Texte erkennen, dass es ihnen weniger auf die sozialen Hierarchien zwischen Figuren ankommt als auf die besondere ästhetische Kunstfertigkeit literarischer Aus- und Herbeiführungen.

  1. Spielregeln und Umgang mit symbolischer Gewalt

Vormoderne Literaturen prägen eigene Wissensordnungen symbolischer Gewalt aus, die sich in den Texten allerdings primär in den dargestellten Handlungen zeigen und implizit bleiben. Was für wiederholbare, regelgeleitete Gewalthandlungen finden sich in unterschiedlichen Gattungs- und Stofftraditionen? Lassen sich daraus praxeologisch Spielregeln symbolischer Gewalt rekonstruieren? Welche Rolle wohnt Wiederholung und Variation gewaltsamen Handelns bei der Ausbildung solcher Spielregeln inne? Wo entwerfen die Texte sowohl auf der Ebene des Agierens der einzelnen Figur als auch in Bezug auf das Verhalten übergreifender erzählter Figurenverbünde oder Öffentlichkeiten gelingende oder auch scheiternde Strategien des Umgangs mit symbolischer Gewalt?

  1. Historische Stilistik und Semantik der Gewalt

Lässt sich eine historische Stilistik der Gewalt entwerfen? Was für ein sprachliches Formrepertoire bildet Gewalt in literarischen Texten des Mittelalters aus? Gibt es sprachliche Formen, die für Gewalt besonders vielfältige Anwendungsmöglichkeiten bieten? Von welchen literarischen Logiken ist dieses Formrepertoire geprägt? In welchen rhetorischen und poetischen Traditionszusammenhängen steht symbolische Gewalt? Lässt sich hier z.B. eine in Vorgehen und Wortschatz skizzierbare Rhetorik der Erniedrigung ausmachen, die Figuren dazu befähigt, entsprechende Strategien der Auseinandersetzung gekonnt zu bespielen? Mit welchem Wortfeld werden die so beigefügten zeichenhafte Verletzungen umschrieben? Wie wird dabei auf kontextspezifische Normvorstellungen und Infamiediskurse zurückgegriffen?

  1. Symbolische Gewalt auf zweiter Stufe

Symbolische Gewalt, die indirekt verfährt und sich an Dritte wendet, zielt in besonderem Maße darauf, ihre Wirkung zu kontrollieren. Man könnte sie daher als symbolische Gewalt ‘auf zweiter Stufe’ beschreiben, denn ihr Mittel der Wahl ist die Verlegung der zentralen Akteure sozialer Aushandlung in die Äußerung hinein. Was bedeutet es, wenn das angegriffene Objekt symbolisch zum virtuellen Gegenstand wird – bis hin zur Konstruktion eines „Strohmanns“? Wie lässt sich der Akteur symbolischer Gewalt als rhetorisch erzeugte Maske denken – und inwiefern wird so symbolische Selbstermächtigung inszeniert? 

  1.  Gewaltfähigkeit und Figur

Soziale Körper haben in der vormodernen Literatur ganz unterschiedliche Formate. In literarischen Imaginationen symbolischer Gewalt bestimmen nicht nur Stand und Geschlecht, sondern zu einem beträchtlichen Teil auch die Gattungs-, Stoff- und Diskurstraditionen darüber, wer wie herabgesetzt werden kann. Wie lassen sich literarische Imaginationen symbolischer Gewalt nutzen, um Figuren- und Gattungstheorien, historische Anthropologie sowie Queer und Gender Studies miteinander zu verknüpfen? Unter welchen Umständen und in welchen literarischen Traditionen erscheint symbolische Gewalt als quasi „von oben nach unten“ eingesetztes Instrument der Verschärfung und Aufrechterhaltung bestehender Ordnungen, wo hingegen fungiert sie eher als letztzugängliche Wehrressource der Schwachen? 

  1. Kleine Formen symbolischer Gewalt 

In der vormodernen Literatur finden sich Akte der sozialen Herabsetzung, die nebenbei erfolgen, nebensächlich scheinen und deshalb in ihrer Bewertung (vorläufig) ambivalent sind. Sie gründen in kleinen und kleinsten Verstößen gegen soziale Handlungsskripte und -erwartungen. Lassen sich diese subtilen Formen sozialer Herabsetzung als Vorstufen der Beleidigung begreifen – möglicherweise in Analogie zum Konzept der microaggressions? Inwiefern bieten diese Darstellungen eine Kontrastfolie oder sogar eine alternative Perspektive auf gegenwärtige Formen sozialer Konfliktverhandlung?

Neben literaturwissenschaftlichen Beiträgen sind auch Vorschläge willkommen, die sich aus geschichts-, kultur- oder kunstwissenschaftlicher Perspektive mit symbolischer Gewalt in mittelalterlichen Medien auseinandersetzen. Abstracts von maximal einer Seite Umfang inklusive Kurzbiografie sind bis zum 31. August 2025 zu senden an: bjoern.buschbeck@ds.uzh.chkathia.kohler@uzh.chlaura.velte@ds.uzh.ch.

Die Tagung zielt auf eine vertiefte Diskussion und orientiert sich deshalb am Format der precirculated papers: Die Beiträge werden vorab verfasst, den Teilnehmenden zugesandt und auf der Konferenz diskutiert. Aufsatzmanuskripte sollten daher bis zum 1. September 2026 eingereicht werden. Reise- und Übernachtungskosten können übernommen werden. Eine zeitnahe Publikation der Beiträge in Form eines Sammelbandes ist geplant. 

 

Bibliographie

Braun, Manuel; Cornelia Herberichs (Hgg.): Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. München 2005.

Böhme, Hartmut: Verwerfung, Schändung, Kränkung des Körpers: Kulturelle und ikonische Figurationen des Invektiven. In: Uwe Israel, Jürgen Müller (Hgg.): Körper-Kränkungen. Der menschliche Leib als Medium der Herabsetzung, Frankfurt/New York 2021, S. 17–54.

Dietl, Cora; Titus Knäpper (Hgg.): Rules and Violence / Regeln und Gewalt. On the Cultural History of Collective Violence from Late Antiquity to the Confessional Age / Zur Kulturgeschichte der kollektiven Gewalt von der Spätantike bis zum konfessionellen Zeitalter. Berlin/Boston 2014.

Dröse, Albrecht: Invektive Affordanzen der Kommunikationsform Flugschrift. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 6 (2021), S. 27-62.

Ellerbrock, Dagmar u.a.: Invektivität - Perspektiven eines neuen Forschungsprogramms in den Kultur- und Sozialwissenschaften. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2017 (2018), S. 2–24.

Eming, Jutta; Claudia Jarzebowski (Hgg.): Blutige Worte. Internationales und interdisziplinäres Kolloquium zum Verhältnis von Sprache und Gewalt in Mittelalter und Früher Neuzeit. Göttingen 2008 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 4).

Frick, Julia: Anti-judaistische hate speech als kultureller Habitus. Zur literarischen ‘Realität’ der Blutbeschuldigung im deutschen Spätmittelalter. In: Katharina Philipowski, Julia Rüthemann (Hgg.): Hassrede und Invektivität in Texten des Mittelalters, Göttingen 2024 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 71.3).

Garnier, Claudia (Hg.): Konzepte und Funktionen der Gewalt im Mittelalter. Berlin 2021 (Geschichte. Forschung und Wissenschaft 72).

Goffman, Erving: Interaction ritual. Essays in Face-to-Face Behavior. Chicago 1967.

Israel, Uwe; Marius Kraus; Ludovica Sasso (Hgg.): Agonale Invektivität. Konstellationen und Dynamiken der Herabsetzung im deutschen und italienischen Humanismus, Heidelberg 2021 (Das Mittelalter. Beihefte 17).

Krämer, Sybille: Sprache als Gewalt oder: Warum verletzen Worte? In: Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer, Hannes Kuch (Hgg.): Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Bielefeld 2007, S. 31–48.

Krämer, Sibylle: ‚Humane Dimensionen‘ sprachlicher Gewalt oder: Warum symbolische und körperliche Gewalt wohl zu unterscheiden sind. In: Sybille Krämer, Elke Koch (Hgg.): Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens. München 2010, S. 21–44.

Krämer, Sybille; Elke Koch (Hgg.): Gewalt in der Sprache. Rhetoriken verletzenden Sprechens. München 2010.

Kraus, Marius: Ulrich von Hutten und seine Gegner. Humanistische Invektiven am Vorabend der Reformation. Baden-Baden 2022.

Pausch, Dennis: Virtuose Niedertracht. Die Kunst der Beleidigung in der Antike. München 2021.

Philipowski, Katharina; Julia Rüthemann (Hgg.): Hassrede und Invektivität in Texten des Mittelalters, Göttingen 2024 (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 71.3).

Sahm, Heike: Mit allen Mitteln. Zur kommunikativen Funktion von Dingen im Kontext von heroischen Invektiven. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 144.1 (2025), S. 73–95.

Schwerhoff, Gerd: Invektivität und Geschichtswissenschaft. Konstellationen der Herabsetzung in historischer Perspektive – ein Forschungskonzept. In: Historische Zeitschrift 311 (2020), S. 1–36.

Suerbaum, Almut; George Southcombe; Benjamin Thompson (Hgg.): Polemic: Language as Violence in Medieval and Early Modern Discourse, Aldershot u.a. 2015.

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kathia.kohler@uzh.ch

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Universität Zürich (Uzh)
Beitrag von: Redaktion avldigital.de
Veröffentlicht am: 06.06.2025
Letzte Änderung: 07.06.2025, 19:48

Vorgeschlagene Zitierweise:
"Symbolische Gewalt in der Literatur des Mittelalters, Zürich" (CfP/CfA Veranstaltungen), avldigital.de, veröffentlicht am: 06.06.2025. http:/avldigital.de/de/vernetzen/fachinformationen/call-for-papers/symbolische-gewalt-in-der-literatur-des-mittelalters-zuerich