Gattung und Gegenwart, Bonn
Gattung und Gegenwart
Eine Tagung des DFG-Graduiertenkollegs 2291 „Gegenwart/Literatur. Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses“ der Philosophischen Fakultät an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (22.-24.06.2023)
Organisator*innen: Philip Iser, Judith Niehaus, Marvin Reimann und Sascha Rothbart
Anmeldung: gattung@uni-bonn.de
Gattungen und Genres sind einerseits wichtige Orientierungspunkte in unserer (medialen) Gegenwart, andererseits ist die Gattungstheorie eine „Reflexionsinstanz von Gegenwart“ als solcher (Keckeis/Michler 2020). Auf der Tagung sollen die verschiedenartigen Beziehungen von „Gattung und Gegenwart“ diskutiert werden: Wie wird Gegenwart in einzelnen (literarischen, filmischen, künstlerischen und musikalischen) Gattungen und Genres verhandelt? Welche Gattungen und Genres wurden in welchen historischen Gegenwarten hervorgebracht? Und welche Rolle spielen Zeit- sowie Gegenwartskonzepte in der und für die Gattungstheorie?
Obwohl heute meist als Zeit- und Epochenbegriff verwendet, ist das Konzept ‚Gegenwart‘ als historisch kontingente Konstruktion zu betrachten. Um 1800 findet eine Verzeitlichung des Denkens statt (vgl. Koselleck 1979, Oesterle 1985, Luhmann 1990): An die Stelle einer punktuellen räumlichen Präsenz tritt dabei die Vorstellung von Gegenwart als eines „jedesmaligen, in der Zeit veränderlichen Zusammenhang[s] aller Elemente der Welt“ (Lehmann 2017). So wird es möglich, von Gegenwart als einem „Zugleichsrahmen“ (Ullmaier 2020) zu sprechen.
Eine vergleichende Historisierung derart unterschiedlicher Gegenwartskonzepte muss eine Geschichte literarischer und künstlerischer Gegenwartsbezüge berücksichtigen: Literatur und Kunst tragen in hohem Maße dazu bei, Gegenwart zu konstituieren, zu reflektieren und zu transformieren, indem sie ästhetische Referenzpraktiken ausprägen, die wiederum durch historisch variable Gattungskonventionen bedingt sind.
In einzelnen Gattungen, Genres oder Textsorten wird Gegenwart unter je spezifischen medialen, formalen und praxeologischen Bedingungen ‚gemacht‘ und reflektiert. Dafür finden beispielsweise der Brief- oder Fortsetzungsroman, Kalender und Tagebücher ebenso wie etwa das Biopic, die Historienmalerei und das Stillleben oder die Gelegenheitsmusik je eigene gattungs- oder genretypische Verfahren und Formen.
Gattungswandel hat „(Rück-)Wirkungen auf kollektive Bewusstseinsstrukturen“ (Michler 2010), die ihrerseits gewisse Gattungspräferenzen hervorbringen (vgl. Voßkamp 1996). Sichtbar wird dies u.a. in Konjunkturen einzelner Gattungen zu bestimmten Zeiten sowie in Entstehungs- und Niedergangsnarrativen, denen ebenfalls zeitdiagnostischer Wert zukommt. Die Historizität von Gegenwart lässt sich somit im Spiegel unterschiedlicher Gattungsgeschichten betrachten. Aus kunsthistorischer Perspektive zeigt sich beispielsweise, dass die Differenzierung der Malerei in die Subgattungen sowie deren Hierarchisierung im 17. Jahrhundert symptomatisch für ihre historische Gegenwart waren (vgl. Boehm 2005). Die literaturtheoretischen Unterscheidungen in die drei Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik in der Mitte des 18. Jahrhunderts geschahen wiederum selbst unter Einbeziehung eines ‚Zeitkriteriums‘ und ordneten sie der Zeitstufen-Trias (Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) auf verschiedene, teils entgegengesetzte Weise, zu (vgl. Takeda 2019, Genette 1990, Lindel 2021).
Ausgehend von diesen Beobachtungen soll die Rolle der Gegenwart in (spezifischen) Gattungen diskutiert werden, d.h. die Frage, wie und mit welchen medialen Verfahren die Gegenwart jeweils produziert und verhandelt wird. In einem zweiten Fragenkomplex geht es um Gattungen als Symptom spezifischer Gegenwarten. Darüber hinaus wird die Rolle von Zeitkriterien und der Gegenwart in der Genretheorie und -geschichte diskutiert.
Programm
Donnerstag, 22. Juni 2023
13:00 Ankommen
13:30 Einführungsvortrag
14:00 Daniel Fleuster (Bonn): Das Konzept des Gegenwartsbezuges. Zum Verhältnis von Gattung und Gegenwart.
14:45 Kaffeepause
Panel I
15:00 May Mergenthaler (Ohio): Geschichte und Theorie des lyrischen Augenblicks. Vom Licht zum Schatten.
15:45 Sophie-Charlott Hartisch (Köln): Prekäre Gegenwart im Kino Wong Kar-Wais
16:30 Kaffeepause
Panel II
17:00 David Brehm (Marburg): »Einrücken in die Gegenwart!« Gattungspoetik und Aktualitätspolitik des Feuilletons im Ersten Weltkrieg
17:45 Claudia Liebrand (Köln): Idylle im Kreuzfeuer. Thomas Manns Herr und Hund aus dem Jahr 1918
18:30 Pause
19:30 Gemeinsames Abendessen
Freitag, 23. Juni 2023
Panel III
9:00 Stefanie Kreuzer (Kassel): ›Filmische Authentizitätsfiktionen‹ von Der Mann mit der Kamera (UdSSR 1929) bis Cloverfield (USA 2008)
9:45 Celestina Trost (Bonn): Szenische Zeitexperimente. Perspektiven auf den Einakter um 1900
10:30 Kaffeepause
Panel IV
11:00 Leonhard Herrmann (Leipzig): Goethes Torquato Tasso als Gattungspoetik der Vergegenwärtigung
11:45 Christian Kirchmeier (Groningen): Die Gegenwart der Komödie. Parabatische Verfahren bei Johann Nestroy
12:30 Mittagspause
Panel V
14:00 Werner Michler (Salzburg): Unzeitgemäß. Zum Zeitkern der Gattungen.
14:45 Philip Iser (Bonn)/Johannes Ullmaier (Mainz): Jahresbücher als Geschichtsgattung der Gegenwart?
15:30 Kaffeepause
Panel VI
16:00 Céline Martins-Thomas (Zürich): Krise, Novelle, Gegenwart. Jonas Lüschers Frühling der Barbaren (2013)
16:45 Bernhard Stricker (Dresden): ›Geistesgegenwart‹. Zeitpraktiken und Zeitreflexion in der Kalendergeschichte
17:30 Pause
19:30 Get-Together / Abendessen
Samstag, 24.06.2023
Panel VII
09:00 Thekla Neuß/Lisa-Frederike Seidler (Berlin): Form der Zeit. Zur Gegenwart im Zeitstück 1920/1960
9:45 Steffen Hendel (Halle): Das Feature als Gattung des westdeutschen Nachkriegsradios
10:30 Kaffeepause
Panel VIII
10:45 Maria Kuberg (Konstanz): Gegenwart des Epos – Epos der Gegenwart? Ann Cottens Verbannt! und Raoul Schrotts Erste Erde. Epos
11:30 Dirk Niefanger (Erlangen): Gegenwärtigkeit des Geschichtsdramas
12:15 Abschlussdiskussion mit gemeinsamen Picknick
Ort der Tagung wird der Senatssaal des Hauptgebäudes der Universität Bonn sein. Den Ablaufplan des dreitägigen Programms mit allen Vorträgen und Gästen aus der Literatur-, Film- und Medienwissenschaft finden Sie auch hier auf unserer Website:
Zur besseren Planung bitten wir Sie, sich via gattung@uni-bonn.de anzumelden
Zitierte Literatur:
- Boehm, Gottfried. „Gattung und Gattungen im historischen Prozeß.“ In: Theorie der Gattungen, Bd. 15. Hg. von Siegfried Mauser, S. 40–46, Laaber 2005.
- Fichte, Johann Gottlieb: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Leipzig 1978 [1806].
- Genette, Gérard: Einführung in den Architext, übers. v. Jean-Pierre Dubost u.a., Stuttgart 1990.
- Keckeis, Paul/Michler, Werner: Einleitung. Gattungen und Gattungstheorie. In: Gattungstheorie. Hg. von Paul Keckeis/Werner Michler, Berlin 2020, 7-48.
- Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979.
- Lehmann, Johannes F.: ,Gegenwart‘ im 17. Jahrhundert? Schwerpunkt. Hg. von Stefan Geyer/ Johannes F. Lehmann, in: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der Literatur (IASL) 42/1 (2017), S. 110–121.
- Luhmann, Niklas: „Soziologische Aufklärung 5: Gleichzeitigkeit und Synchronisation“. In: Ders.: Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S. 100–130.
- Lindel, Korbinian: Das Zeitkriterium in der Gattungstheorie und die frühmoderne Lyrikdiskussion. In: Scientia Poetica 25 (2021).
- Michler, Werner: „Kontext und Gattung“. In: Handbuch Gattungstheorie. Hg. von Rüdiger Zymner. Stuttgart/Weimar 2010, 87–89.
- Oesterle, Ingrid: „‚Es ist an der Zeit!‘ Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800.“ In: Goethe und das Zeitalter der Romantik (Stiftung für Romantikforschung; 21). Hg. von Walter Hinderer/Alexander von Bormann/Gerhart von Graevenitz. Würzburg 2002, S. 91–121.
- Takeda, Arata: „Die Verzeitlichung der Gattungspoetik 1768–1951. Zur Wissensgeschichte einer Fehlauslegung“. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistes-geschichte 93 (2019), 157–189.
- Ullmaier, Johannes: Manual der Gegenwart. Einige Vorschläge zum Reden über Zeit. In: Gegenwart denken. Diskurse, Medien, Praktiken. Hg. von Johannes F. Lehmann/Kerstin Stüssel. Hannover 2020.
- Voßkamp, Wilhelm: „Gattungen“. In: Helmut Brackert/Jörn Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1996, 253–269.