CfP/CfA Veranstaltungen

POLITISCHE GEGENWARTSLITERATUR UND VERANTWORTUNG DES AUTORS / CONTEMPORARY POLITICAL LITERATURE AND THE AUTHOR'S RESPONSIBILITY

Deadline Abstract
30.04.2024
Deadline Anmeldung
30.04.2024
Deadline Beitrag
31.10.2024

Kontextualisierung

 

Seit den 1930er Jahren kann man in der deutschsprachigen Literatur eine progressive Intensität mit der Beschäftigung von Politik und Gesellschaft feststellen: Vom dokumentierten Einbezug der Wirklichkeit in die diegetische Fiktion der ‚Neuen Sachlichkeit‘ über die zusehend politisch engagierten Phasen des Realismus und Neorealismus bis hin zum heutigen ‚Mitstenographieren‘ der Gegenwart, um mit Juli Zehs Worten zu sprechen, wird die Teilnahme des Schriftstellers am öffentlichen Leben ständig sichtbarer und präsenter. Die Gründe für diese Konjunktur des Politischen sieht Irene Husser im gesellschaftlichen Klima des einundzwanzigsten Jahrhunderts, das von vermehrt kriegerischen Konflikten (man denke an Russland/Ukraine, Naher Osten), rechtsradikalen Bewegungen als Antwort auf unzureichende politische Lösungsfindungen, Umwelt- und Gesundheitskrisen uvm. geprägt ist.  Da Politik, nach Husser, immer wieder Antworten auf die Herausforderungen des laufenden Jahrhunderts schuldig bleibt und keine gesamtgesellschaftlich wirksamen Sinnangebote liefert, sei „die Literatur als Medium der Orientierung und Vermittlung von Werten und Leitideen des demokratischen Miteinanders im Zeitalter der Globalisierung, Digitalisierung, der wachsenden sozialen Ungleichheit und ökologischen Krisen mehr denn je gefragt“.[1]

Die Präsenz engagierter Autoren, die sich nicht scheuen, öffentlich ihre Meinung zu vertreten, wird zusätzlich durch die mediale Vielfältigkeit und Reichweite verschärft wird, wodurch die Frage der Verantwortlichkeit des/der Schriftstellers*in für seine*ihre Schriften sowie Aussagen und Kommentare in der Öffentlichkeit an Aktualität gewinnt. Diese zusehende Wirklichkeitsnähe des politischen Schreibens verdünnt die Grenze zwischen Fiktionalität und Faktizität und stellt höhere Anforderungen an den*die Autor*in als Träger*in der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Insbesondere für das politische Schreiben ‚engagierter‘ zeitgenössischer Autoren, wie Juli Zeh, Uwe Timm, Ulrich Peitzer, Robert Menasse, Maxime Biller, Bernhard Schlink, Daniel Kehlmann, Josej Winkler, Benjamin Stuckrad-Barre, Peter Handke, Dinçer Güçyeter, Nora Bossong, Navid Kermani, Karen Duve, Karine Tuil u.a. stellt sich die Frage, ob es nicht eines spezifischen Verantwortungsanspruchs bedarf, um das ‚gute Zusammenleben‘ in der Gesellschaft nicht zu kompromittieren. Nach Gisèle Sapiro kann die Freiheit des Autors nicht total sein, insofern die Lektüre eines Werkes, das den öffentlichen Raum betritt, sich nicht vom sozio-historischen Kontext befreien kann und als Vehikel von Ideologien, Weltanschauungen, Auslegungen und Überzeugungen fungiert.[2]

Ich freue mich über Beitragsvorschläge, die sich in die folgenden Themenfelder einordnen lassen (und bin selbstverständlich auch für weitere Vorschläge offen):

Untersuchungen zur Bestimmung des Begriffs ‚politische Literatur‘ und Verantwortung: Nach Michael Navratil sei deutlich geworden, dass sich ein übergreifender […] Begriff der ‚politischen Literatur‘“[3] nicht finden lasse. Claas Morgenroth empfiehlt diesbezüglich „die Rede von politischer Literatur so vorsichtig wie ergebnisoffen zu führen“.[4] Nach Peter Handke gehe es darum, die ‚Dinge beim Namen‘ zu nennen, um eine „sehr einfache, aufzählbare, datierbare, pauschale Wirklichkeit“[5] hervorzubringen.  Andere Versuche, den Begriff des politischen Schreibens zu bändigen, rekurrieren auf die Vorstellung des Engagements des/der Schriftstellers*in, der/die kritische Perspektiven und aktive Stellungnahmen zu gesellschaftlich-politischen Ereignissen liefert, um Zwiespältigkeiten, Missstände, oder Widersprüche aufzuzeigen.[6]

Untersuchungen zur Autorschaft:

Nach Willi Huntemann und Kai Hendrik Patri lasse sich politische Literatur nur „zureichend im Viereck von Autor, Text, (literarischer) Öffentlichkeit und politischem Status quo erfassen“.[7] Wie Christian Sieg hervorhebt, könne politische Literatur nicht von der Autorschaft getrennt werden, denn es sei schließlich der/die Autor*in, der/die über die literarische Fiktion zu gesellschaftlichen Debatten Stellung nimmt.[8] Die Frage des ‚Durchscheinens‘ des/derAutor*in im fiktionalen Text muss aufgeworfen werden: Inwiefern kann, muss, darf ein Text der Verantwortung des/der Autor*in zugeordnet werden ? Text und Autor als verantwortliches Zweigespann?[9]

Untersuchungen zum Verhältnis Kunstfreiheit und Verantwortung des politischen Autors

Die freie Kunstausübung verträgt nur Einschränkungen, deren Rechtfertigung von Fall zu Fall neu zu bewerten ist durch andere Grundrechte (Prinzip der Verhältnismäßigkeit), durch nicht spezifisch auf die Kunst bezogene Gesetze oder durch die Prinzipien des ‚guten Zusammenlebens‘, der Sittlichkeit oder ethischer Vorbehalte. „Wie kann das Prinzip der ‚Kunstfreiheit‘ für Literatur definiert werden? Beispiele, Vorschläge, Kommentare zu dieser komplexen Frage.

Thematische Untersuchungen zu politischer Gegenwartsliteratur im Lichte der Verantwortung des*r Schriftsteller*in.

Juli Zeh verhandelt in Über Menschen (2021) Themen des Rechtsradikalismus, der Corona-und der Klimakrise, Daniel Kehlmann stellt in Lichtspiel (2023) die politische Biegsamkeit des Künstlers und dessen Kunst in den Mittelpunkt, Robert Menasse befasst sich in Die Erweiterung (2022) mit den politischen Hintergründen der EU-Erweiterung, Anne Rabe prangert in Die Möglichkeit von Glück (2023) die ‚Omertà‘ der letzten DDR-Generation an, uwv.

Die Liste ist nicht exhaustiv, andere Vorschläge, Themen und Ideen sind ebenso möglich und willkommen.

Ich freue mich über Ihre Beitragsvorschläge, die Sie bitte bis zum 30. April 2024 an folgende Mail-Adresse senden: Alexandra.juster@uibk.ac.at

Bei Nachfragen melden Sie sich gerne per Mail.

Dr. Mag. jur. Alexandra Juster

Universität innsbruck – Institut für Vergleichende Literaturwissenschaft

Innrain 52 – 6020 Innsbruck

https://www.uibk.ac.at/vergl-litwiss/personen/juster/

[1] Husser, Irene. Elfriede Jelineks Theater des (Post-) Politischen. Agonistik der Gegenwartsliteratur. Berlin/Boston. De Gruyter, 2023, S. 2.

[2] Vgl. Sapiro, Gisèle. La responsabilité de l’écrivain. Littérature, droit et morale en France (XIXe – XXIe siècle). Paris. Seuil, 2011, S. 715-720.

[3] Navratil, Michael. Kontrafaktik der Gegenwart. Berlin/Boston. De Gruyter, 2021, S. 195.

[4] Morgenroth, Claas. Erinnerungspolitik und Gegenwartsliteratur: Das unbesetzte Gebiet-The Church of John F. Kennedy-Really ground zero-Der Vorleser. Erich Schmidt Verlag. Berlin, 2014, S. 278.

[5] Handke, Peter. Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 1972, S. 24.

[6] Krstanovič, Andelka & Luka, Banja. „Literatur vs. Engagement. Einige Anmerkungen zu Peter Handkes Elfenbeinturm“. Jelena Knežević & al (Hg.). „Macht und Politik in der deutschen Sprache, Literatur und Kultur,“ in Folia linguistica et litteraria: Zeitschrift für Sprach-und Literaturwissenschaft (18/1), 2017, S. 83-98, hier: S. 90.

[7] Willi Huntemann und Kai Hendrik Patri. „Einleitung: Engagierte Literatur in Wendezeiten“. Willi Huntemann/ Malgorzata Klentak-Zablocka/ Fabian Lampart/Thomas Schmidt (Hg.). Engagierte Literatur in Wendezeiten. Würzburg. Königshausen & Neumann, 2003, S. 9–31, hier S. 12.

[8] Sieg, Christian. Die „engagierte Literatur“ und die Religion. Politische Autorschaft im literarischen Feld 1945 und 1990. Berlin/Boston. De Gruyter, 2017, S. 2.

[9] Vgl. auch Sapiro, Gisèle. Peut-on dissocier l’œuvre de l’auteur ? . Paris. Seuil, 2020.

Contextualisation

 

Since the 1930s, a progressive intensity of engagement with politics and society can be observed in German-language literature: From the documented inclusion of reality in the diegetic fiction of the 'New Objectivity' to the increasingly politically engaged phases of realism and neo-realism to today's 'co-stenography' of the present, to use Juli Zeh's words, the writer's participation in public life has become ever more visible and present. Irene Husser sees the reasons for this boom in the political in the social climate of the twenty-first century, which is characterised by increasing armed conflicts (think Russia/Ukraine, the Middle East), right-wing radical movements in response to inadequate political solutions, environmental and health crises and much more.  Since politics, according to Husser, repeatedly fails to provide answers to the challenges of the current century and does not offer any meaningful solutions that are effective for society as a whole, "literature is more in demand than ever as a medium for orientation and communication of values and guiding principles of democratic coexistence in the age of globalisation, digitalisation, growing social inequality and ecological crises".[1]

The presence of committed authors who are not afraid to express their opinions in public is further intensified by the diversity and reach of the media, which makes the question of the writer's responsibility for their writings, statements and comments in public more topical. This increasing closeness to reality in political writing thins the boundary between fictionality and factuality and places greater demands on the author as the bearer of responsibility towards society. Especially for the political writing of 'committed' contemporary authors such as Juli Zeh, Uwe Timm, Ulrich Peitzer, Robert Menasse, Maxime Biller, Bernhard Schlink, Daniel Kehlmann, Josej Winkler, Benjamin Stuckrad-Barre, Peter Handke, Dinçer Güçyeter, Nora Bossong, Navid Kermani, Karen Duve, Karine Tuil and others, the question arises as to whether a specific claim to responsibility is required in order not to compromise the 'good coexistence' in society. According to Gisèle Sapiro, the freedom of the author cannot be total, insofar as the reading of a work that enters the public sphere cannot free itself from the socio-historical context and functions as a vehicle for ideologies, world views, interpretations and convictions.[2]

I am happy to receive suggestions for contributions that can be categorised in the following subject areas (and am of course also open to other suggestions):

Investigations into the definition of the term 'political literature' and responsibility: According to Michael Navratil, it has become clear that "an overarching [...] concept of 'political literature'"[3] cannot be found. In this regard, Claas Morgenroth recommends "speaking of political literature with as much caution as open-endedness".[4] According to Peter Handke, it is a matter of 'calling a spade a spade' in order to produce a "very simple, enumerable, datable, generalised reality"[5] .  Other attempts to tame the concept of political writing refer to the idea of the writer's commitment to providing critical perspectives and active statements on socio-political events in order to highlight ambiguities, grievances or contradictions.[6]

Investigations into authorship:

According to Willi Huntemann and Kai Hendrik Patri, political literature can only be "adequately captured in the quadrangle of author, text, (literary) public and political status quo".[7] As Christian Sieg emphasises, political literature cannot be separated from authorship, as it is ultimately the author who takes a stance on social debates through literary fiction.[8] The question of the 'translucency' of the author in the fictional text must be raised: To what extent can, must, may a text be attributed to the responsibility of the author? Text and author as a responsible duo?[9]

Investigations into the relationship between artistic freedom and the responsibility of the political author:

The free exercise of art can only tolerate restrictions whose justification must be reassessed on a case-by-case basis by other fundamental rights (principle of proportionality), by laws not specifically related to art or by the principles of 'good coexistence', morality or ethical reservations. "How can the principle of 'artistic freedom' be defined for literature? Examples, suggestions, comments on this complex question.

Thematic analyses of contemporary political literature in the light of the writer's responsibility:

In Über Menschen (2021), Juli Zeh deals with issues of right-wing radicalism, the coronavirus crisis and the climate crisis; in Lichtspiel (2023), Daniel Kehlmann focuses on the political pliability of the artist and his art; in Die Erweiterung (2022), Robert Menasse looks at the political background to EU enlargement; in Die Möglichkeit von Glück (2023), Anne Rabe denounces the 'omertà' of the last GDR generation, and much more.

The list is not exhaustive, other suggestions, topics and ideas are also possible and welcome.

I look forward to receiving your suggestions for contributions, which you should send to the following e-mail address by 30 April 2024: Alexandra.juster@uibk.ac.at

If you have any questions, please contact us by e-mail.

 Dr Alexandra Juster

University of innsbruck - Institute for Comparative Literature

Innrain 52 - 6020 Innsbruck

https://www.uibk.ac.at/vergl-litwiss/personen/juster/


[1] Husser, Irene. Elfriede Jelinek's Theatre of the (Post-) Political. Agonistics of contemporary literature. Berlin/Boston. De Gruyter, 2023, p. 2.

[2] Cf. Sapiro, Gisèle. La responsabilité de l'écrivain. Littérature, droit et morale en France (XIXe - XXIe siècle). Paris. Seuil, 2011, pp. 715-720.

[3] Navratil, Michael. Counterfactuals of the present. Berlin/Boston. De Gruyter, 2021, p. 195.

[4] Morgenroth, Claas. Remembrance Politics and Contemporary Literature: The Unoccupied Territory-The Church of John F. Kennedy-Really ground zero-The Reader. Erich Schmidt Verlag. Berlin, 2014, p. 278.

[5] Handke, Peter. I am an inhabitant of the ivory tower. Suhrkamp Verlag. Frankfurt am Main, 1972, p. 24.

[6] Krstanovič, Andelka & Luka, Banja. "Literature vs. commitment. Some notes on Peter Handke's ivory tower". Jelena Knežević & al (eds.). "Macht und Politik in der deutschen Sprache, Literatur und Kultur". Folia linguistica et litteraria: Zeitschrift für Sprach-und Literaturwissenschaft (18/1), 2017, pp. 83-98, here: p. 90.

[7] Willi Huntemann and Kai Hendrik Patri. "Introduction: Engagierte Literatur in Wendezeiten". Willi Huntemann/ Malgorzata Klentak-Zablocka/ Fabian Lampart/Thomas Schmidt (eds.). Engagierte Literatur in Wendezeiten. Würzburg. Königshausen & Neumann, 2003, pp. 9-31, here: p. 12.

[8] Sieg, Christian. The "committed literature" and religion. Political authorship in the literary field 1945 and 1990. Berlin/Boston. De Gruyter, 2017, p. 2.

[9] See also Sapiro, Gisèle. Peut-on dissocier l'œuvre de l'auteur ? Paris. Seuil, 2020.

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur und Recht

Ansprechpartner

Einrichtungen

Leopold-Franzens-Universität Innsbruck
Vergleichende Literaturwissenschaften
Beitrag von: Alexandra Juster
Datum der Veröffentlichung: 06.03.2024
Letzte Änderung: 13.03.2024