"Poetische Hirne". Komparatistische Perspektive auf die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Theorien der Psyche
1924 liefert das erste Manifest des Surrealismus folgende Definition, um das Ziel der Bewegung zu beschreiben: „Reiner, psychischer Automatismus, durch welchen man, sei es mündlich, sei es schriftlich, sei es auf jede andere Weise, den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht.“ Der Wunsch, das Denken im Prozess seines Entstehens und außerhalb jeder Zensur durch die Vernunft zu erfassen, um seine unmittelbare Übersetzung in Worte zu versuchen, wurde vom damaligen Zeitgeist mitbestimmt: durch die Forschung in der Psychologie (zBsp. die Erfindung der experimentellen Psychologie durch Wilhelm Wundt einige Jahrzehnte zuvor; die Theorien von Pierre Janet) und in der Psychiatrie (die Arbeiten von Emile Kraepelin in Deutschland und Eugen Bleuler in der Schweiz), sowie im Rahmen der Entstehung der Psychoanalyse. Die Aktivität des Geistes, sowohl in seiner philosophischen und schöpferischen Ausübung (Henri Bergson, Paul Valéry und schon vorher Hippolyte Taine) als auch in seinen pathologischen Formen, faszinierte die Schriftsteller*innen - und zwar weit über den Surrealismus hinaus. Man hoffte, noch unerforschte Regionen der Psyche zu entdecken und die unverbrauchten Reserven der Vorstellungskraft zu erfassen. 1923 widmete Italo Svevo mit La coscienza di Zeno der verstörten Psyche seines Helden einen ganzen Roman. Der „stream of consciousness“, der bereits 1890 vom amerikanischen Philosophen und Psychologen William James theoretisiert wurde, bot den Autor*innen der Moderne (Proust, Woolf, Joyce, Faulkner...) neue Ausdrucksmöglichkeiten für die Innenwelt ihrer Figuren.
Das Manifest, dessen hundertsten Jahrestag wir feiern, stellt einen besonders fruchtbaren Moment zwischen Literatur, Kunst und wissenschaftlichen Theorien zur Funktionsweise des Geistes dar. Doch die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind nur ein Beispiel für die Wechselbeziehungen zwischen kreativem Schaffen und wissenschaftlichen Darstellungen aus der Medizin und der psychologisch ausgerichteten Forschung. Die Jahrestagung der SGAVL/ASLGC möchte sich diesen Begegnungen zwischen Literatur und Wissenschaft rund um das gemeinsame Objekt der Psyche widmen (ein Objekt, dessen Definition und Abgrenzung von Anfang an problematisch war, wovon die Vielfalt der Bezeichnungen je nach Denkströmung und Epoche zeugt: „der Geist“, „die Psyche“, „das Gehirn“, „der psychische Apparat“, „das Mentale“, „die Kognition“...). Die Tagung soll die Gelegenheit bieten, über epistemische Wechselwirkungen zwischen Wissensfeldern der Psychologie und Literatur nachzudenken. Mit welchen Zielen begegnen sich diese Disziplinen? Welche Ideen, Modelle und wissenschaftliche Metaphern des Denkens und des Gehirns fließen im Laufe der Jahrhunderte in literarische Produktionen ein? Der Weg, der von der kartesianischen res cogitans über Galls Phrenologie (die u.a. bei Goethe, Balzac, Dickens und Ch. Brontë zahlreiche Reaktionen auslöste) bis zur Neuronenlehre von Santiago Ramon y Cajal führt, berührt auch die literarische Welt: Wie beeinflussen die Theorien der Psyche und des Bewusstseins die Überlegungen zur Kreativität, und welche poetische Kraft steckt in ihnen? Heute werden die Vorstellungen über unseren „Denkapparat“ wesentlich von den Neuro- und Kognitionswissenschaften sowie von der künstlichen Intelligenz geprägt. Deswegen möchten wir die Gelegenheit nutzen, den Austausch zwischen literarischen und wissenschaftlichen Diskursen, sowie zwischen erzählerischem Schaffen und theoretischen Spekulationen, zu untersuchen – und zwar im doppelten Vergleich der Sprachen und der kulturellen Kontexte einerseits, der Traditionen des Wissens andererseits. Wenn das Gehirn ein Buch ist, „das sich selbst liest“ (Diderot), bestimmt dann die Sprache, in der es geschrieben wird, seine Rezeption? Neben der Analyse der Plastizität von Diskursen und Darstellungen wird es spezifisch auch darum gehen, auf die Entstehung neuer literarischer und wissenschaftlicher Formen in diesem besonderen Bereich zu achten. Beitragsvorschläge, die diese Fragen erforschen, sind also besonders willkommen.
Organisation: Sophie Jaussi (Universität Freiburg).
Abstracts (200-300 Wörter; kurze Bio-bibliographie) können bis zum 15. Mai 2024 auf Deutsch, Französisch, Englisch oder Italienisch an sophie.jaussi@unifr.ch gesendet werden.