Kolonialisierung der Vergangenheit (Workshop, 17./18.3.2022, Frankfurt am Main)
Die Kolonialisierung der Vergangenheit (CfP/CfA)
Interdisziplinärer Workshop
Frankfurt am Main, 17./18.3.2022
Organisation: Mira Shah, Patrick Stoffel
Die Vergangenheit ist etwas Gegebenes – die Vergangenheit ist etwas Gemachtes. Sie ist zum einen eine Abfolge von Ereignissen, auf die wir wie Walter Benjamins Engel der Geschichte blicken, während wir uns vergleichsweise blind rückwärts in unsere noch nicht ereignete Zukunft bewegen. Zum anderen aber führt die „Entdeckung der Vergangenheit“ (Schnapp 2009), speziell auch der Ur- und Frühgeschichte des Menschen sowie der Erdgeschichte, und der „Vergangenheit selber“ (Koselleck 1989, 191) als funktionalisierbarer temporaler Raum in der Moderne auf einen immensen, in weiten Teilen ‚dunklen‘ Kontinent. Die Entdeckung und Eroberung dieses (tiefen-)zeitlichen Kontinents ist der Entdeckung und Eroberung anderer Kontinente im Raum nicht unähnlich: Die Vergangenheit ist etwas, das wir untersuchen – erkunden, vermessen, kartographieren, chronologisieren, kategorisieren –, imaginieren und vielfach auch instrumentalisieren wie ein unbekanntes Land. Sie ist uns fremd, und diese Fremde fordert den Menschen dazu heraus, sie zu entfremden, verständlich zu machen, aber auch: im Sinne einer modernen Geschichte zu erobern und sie durch ihre Aneignung als eigene Ur- und Vorzeit zu beherrschen. Und diese Vergangenheit bietet auch dort noch ein weites Betätigungsfeld, wo der Verlust der letzten weißen Flecken auf der Landkarte lautstark beklagt wird. In The Lost World (1912), Arthur Conan Doyles verspätetem Exkurs ins Genre der ‚Imperial Romance‘, stößt eine Reisegesellschaft aus London auf einem Hochplateau im Amazonasbecken auf den aus der Welt verschwunden geglaubten „room for romance“ (Doyle 2008, 10): Eine ‚Maple White Land‘ getaufte Urwelt, die abgeschnitten von der restlichen Welt die Zeiten überdauert hat, ermöglicht die Fortführung kolonialer Praktiken über das Ende der Kolonialzeit hinaus.
Die Suche nach Vergangenheit lässt sich, versucht man wie Alain Schnapp eine Wissensgeschichte der Archäologie zu schreiben, bis in die Antike verfolgen. Bei Platon taucht ein erster Begriff von Archäologie auf: als Suche nach der Vergangenheit, die archaiologia als „Erzählung der Ursprünge“ (Schnapp 2009, 10). Diese Suche produziert mit ihren chronologischen Reihungen und der Interpretation der Bedeutungen von Ereignissen und Kontinuitäten in Reinhard Kosellecks Sinn ‚Fiktionen‘, die den vielfältigen Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart entsprechen, besonders dort, wo „die Vergangenheit als solche nicht mehr wiederherstellbar“ ist, weil sie sich in der Tiefe der Zeit verliert und man daher gezwungen wird, „den fiktiven Charakter vergangener Tatsächlichkeiten anzuerkennen“: „Gemessen an der Unendlichkeit vergangener Totalität, die uns als solche nicht mehr zugänglich ist, ist jede historische Aussage eine Verkürzung“ (Koselleck 1978, 379).
Gerade diese ‚tiefe Zeit‘ rückt um 1800 in den Fokus des Nachdenkens über die Vergangenheit (Gould 1987; Schnyder 2012; Richter 2005), die es ‚aufzudecken‘ gilt. Diese Aufdeckung basiert auf einer doppelten Vergegenwärtigung von vergangenen Zeiten: Erstens besteht das deutliche epistemische Bedürfnis, diese Vergangenheit(en) in bester praktisch-hermeneutischer Manier in einer aneignenden Geste aus dem Dunkeln des unbekannten Fremden ans Licht des verstandenen Vertrauten zu befördern und sichtbar zu machen (Polaschegg 2005, 51; Gadamer 1976, 32). Die vergleichende Vergegenwärtigung bringt Licht ins Dunkel der Zeit: «The past is the present in the sense that our reconstruction of the meaning of data from the past are based in analogies with the world around us“ (Hodder 1982, 9). Zweitens entspringen aber bereits die Tätigkeiten des Auffindens und Interpretierens von Fundstücken und Artefakten, von Monumenten und Quellen ihrer so und nicht anders beschaffenen Gegenwart. Diese Vergegenwärtigung mittels Praktiken setzt folglich ein, noch bevor das von ihnen Aufgedeckte im Rahmen der zeitgenössischen Theoriebildung der mit der Vergangenheit befassten Geschichts- und Kulturwissenschaften auf ihre ‚Bedeutung‘ hin befragt werden kann. Die Geschichte ist, wie Koselleck schreibt, „bedingt von den Wünschen und Plänen sowie den Fragen, die dem Heute entspringen. Der Erfahrungsraum der Zeitgenossen bleibt das erkenntnistheoretische Zentrum aller Geschichten“ (Koselleck 1989, 185).
Wir wollen uns in diesem Workshop mit der Doppelfigur der Vergegenwärtigung befassen, wie sie sich (spätestens) seit 1800 auch als Kolonialisierung der Vergangenheit durch die (jeweilige) Gegenwart verstehen lässt. Dabei ist die Kolonialisierung unter Berücksichtigung der Breite ihrer Bedeutungen ebenfalls als Doppelfigur denkbar: An einem Ende dieses Spektrums steht eine Besiedelung der Vergangenheit durch ihre Geschichte und Geschichten, die im Verlauf ihrer Durchdringung hinab in tiefste Zeiten entstehen; am anderen eine machtpolitische Besetzung dieses ‚dunklen‘ Kontinents mit den je unterschiedlichen Interessen der jeweiligen Gegenwart. Dabei bedient sich die aneignende Vergegenwärtigung der Vergangenheit bei den ‚bewährten‘ Praktiken und Rhetoriken der Kolonialisierung im Raum. Die nach der Entdeckung der Tiefenzeit um 1800 einsetzende Rekonstruktion längst vergangener, menschenleerer Welten kam nicht ohne visuelle Anleihen bei Bildern von nicht-europäischen, aber vom europäischen Kolonialismus und später Imperialismus ‚in Besitz‘ genommenen Erdteilen aus (Stoffel/Wessely 2020; Stoffel 2020). Die Zeit war vornehmlich im Raum erfahrbar, und für die Vor- und Darstellung menschenleerer geologischer Epochen diente in den deutschsprachigen Ländern der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bevorzugt Südamerika, von wo Alexander von Humboldt zu berichten wusste, dass der Mensch inmitten einer wilden und gigantischen Natur verschwinde, als Bildspender und Projektionsfläche. Für eine Vorstellung der Lebenswelt der Steinzeit hingegen, die erst Mitte des 19. Jahrhunderts begrifflich ins geschichtliche Bewusstsein tritt, stehen jene ‚Naturvölker‘ bereit, die eine Universalgeschichte bereits stufenförmig um den Europäer herum geordnet hatte. Für Friedrich Schiller, seine Zeitgenoss/innen und Nachfolger/innen scheint „[e]ine weise Hand […] uns die rohen Volkstämme bis auf den Zeitpunkt aufgespart zu haben, wo wir in unsrer eignen Kultur weit genug fortgeschritten seyn, um von dieser Entdeckung eine nützliche Anwendung auf uns selbst zu machen, und den verlornen Anfang unsers Geschlechts aus diesem Spiegel wieder herzustellen“ (Schiller 1789, 11f.) Zunächst sind es die „nordamerikanischen Hinterwäldler“ (Meldung zu den Pfahlbaufunden am Zürichsee aus der Zürcher Freitagszeitung, 10. März 1853, zit. Trachsel 2004, 42), dann die Papua Neuguineas (Shah [im Erscheinen]) und andere Pazifikbewohner/innen und bis in die Gegenwart hinein die Aborigines Australiens und diverse Völker Afrikas, die zur ‚lebenden Steinzeit‘ werden können, weil ihre Erforschung ihrerseits strukturell durch den europäischen Kolonialismus und Imperialismus ermöglicht wird (bspw. Flannery 1995; Lee/DeVore 1969).
Diesen Überschneidungen von räumlichen und zeitlichen kolonialen (Welt-)Ordnungen sowie den Übertragungen ‚bewährter‘, gut erforschter Praktiken und Rhetoriken der Kolonialisierung anderer, ‚fremder‘ Länder und Erdteile auf die Untersuchung, Imaginierung und Instrumentalisierung der weit entfernten, aber auch der näheren Vergangenheit möchte der Workshop am 17. und 18. März 2022 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main nachgehen.
Mögliche Themen sind:
- Versuch der Kartographierung bzw. Chronologisierung der kolonialen Raum-Zeit-Ordnung
- Beispiele für die ‚kolonialisierende‘ Erschließung einzelner Zeitepochen durch verschiedene am Projekt einer ‚Eroberung/Entdeckung der Vergangenheit‘ beteiligte Wissenschaften; die zu untersuchende Zeitspanne reicht von der Geschichte über die Ur- und Frühgeschichte bis tief hinab in die Erdgeschichte
- Die Rolle von Kolonialismus und Imperialismus für die Strukturen und Institutionen der Vergangenheitsforschung
- Die Funktion von Vergangenheit(en) in historischen und intellektuellen Dekolonisierungsprozessen
- Die Entdeckung der Vergangenheit und ihre (Re)konstruktion bzw. Imagination in Literatur, Bildender Kunst und anderen Medien
- Die Bedeutung der (tiefen) Vergangenheit für Alltagswelten der Gegenwart
Wir freuen uns über Vortragsvorschläge im Umfang von einer Seite bis zum 15. September 2021 an patrick.stoffel@leuphana.de und shah@lingua.uni-frankfurt.de.
Lit:
Arthur Conan Doyle: The Lost World. Oxford, New York [1912] 2008.
Tim Flannery: The Future Eaters. An Ecological History of the Australasian Lands and People. New York 1995.
Hans-Georg Gadamer: Einführung. In: ders., Gottfried Boehm (Hrsg.): Seminar: Philosophische Hermeneutik. Frankfurt a.M. 1976, S. 7–40.
Stephen Jay Gould: Time’s Arrow, Time’s Cycle. Myth and Metaphor in the Discovery of Geological Time. Cambridge, Mass./London 1987.
Ian Hodder: The Present Past. An Introduction to Anthropology for Archeologists. London 1982.
Reinhart Koselleck: Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft. In: Hans-Georg Gadamer, Gottfried Boehm (Hrsg.): Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften. Frankfurt a.M. 1978, S. 362–380.
Reinhart Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt. In: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M. 1989, S. 176–207.
Richard B. Lee, Irven DeVore (Hrsg.): Man the Hunter. Chicago 1969.
Andrea Polaschegg: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert. Berlin/New York 2005.
Jürgen Richter: «Nach diesem Anfang begreift sich alles Übrige leicht.» Die Entdeckung der frühen Menschheitsgeschichte. In: Thomas Fischer (Hrsg.): Bilder von der Vergangenheit. Zur Geschichte der archäologischen Fächer. Wiesbaden 2005, S. 39–57.
Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine Akademische Antrittsrede bey Eröffnung seiner Vorlesung gehalten. Jena 1789.
Alain Schnapp: Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Abenteuer der Archäologie. Aus dem Französischen übers. v. Andreas Wittenburg, Stuttgart 2009.
Peter Schnyder: Paläontopoetologie. Zur Emergenz der Urgeschichte des Lebens. In: Johannes F. Lehmann, Roland Borgards, Maximilian Bergengruen (Hrsg.): Die biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnittpunkt von Erzählordnung und Wissenstransformation. Freiburg i. Br. u.a. 2012, S. 109–131.
Mira Shah: Neuguinea. Biogeographie der Steinzeit. In: Roland Borgards, Lena Kugler, Mira Shah: Pazifische Passagen. Ein Insularium des Stillen Ozeans. [Im Erscheinen].
Patrick Stoffel, Christina Wessely: Exhibiting Earth History. The Politics of Visualization in the Second Half of the Nineteenth Century. In: Gabriele Genge, Ludger Schwarte, Angela Stercken (Hrsg.): Aesthetic Temporalities Today. Present, Presentness, Re-Presentation. Bielefeld 2020, S. 57–66.
Patrick Stoffel: Deep time Heimat. Die prähistorischen Landschaften des Deutschen Reichs. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 5/1 (2020), S. 31–42.
Martin Trachsel: „Ein neuer Kolumbus“ – Ferdinand Kellers Entdeckung einer Welt jenseits der Geschichtsschreibung. In: Antiquarische Gesellschaft in Zürich (Hrsg.): Pfahlbaufieber. Von Antiquaren, Pfahlbaufischern, Altertümerhändlern und Pfahlbaumythen. Beiträge zu „150 Jahre Pfahlbauforschung in der Schweiz“. Zürich 2004, S. 9–68, hier: S. 42: Meldung vom 10. März 1853 in der Zürcher Freitagszeitung.