Das lyrische Flugblatt im Expressionismus – Benn und andere, Marbach
Call for Papers
Das lyrische Flugblatt im Expressionismus – Benn und andere
Workshop am Deutschen Literaturarchiv Marbach am 4./5. April 2024
Organisation: Samuel Müller und Stephan Kraft (Würzburg)
In den „Lyrischen Flugblättern“ Alfred Richard Meyers wurden zahlreiche bedeutende Gedichtzyklen vor allem der expressionistischen Literatur erstveröffentlicht. Ernst Rowohlt gibt an, er und Kurt Pinthus hätten auf Grundlage der broschierten Heftchen ihre Auswahl für die wirkungsvolle Anthologie „Menschheitsdämmerung“ (1920) getroffen. Das feine Gespür Meyers für vielversprechende Texte und Talente (darunter Gottfried Benn, Else Lasker-Schüler, Alfred Döblin, Georg Heym, Yvan Goll, Paul Zech, Alfred Lichtenstein, Filippo Tomaso Marinetti, Joachim Ringelnatz, Hans Carossa, Heinrich Lautensack) trug wie das Programm des ungleich bekannteren Kurt Wolff Verlags und der prominenten Avantgarde-Zeitschriften („Der Sturm“, „Die Aktion“, „Die weißen Blätter“) maßgeblich zur Herausbildung der expressionistischen Strömung bei. Der Workshop nimmt sich dieses publizistischen Phänomens an, um die Rolle des Medienformats für die Avantgarden zu untersuchen. Der Schwerpunkt soll dabei auf dem Umfeld Gottfried Benns liegen, der mit den „Morgue“-Gedichten (1912) sein Debüt in der Heftreihe machte.
Die „Lyrischen Flugblätter“, die auch der Kurzprosa offenstanden, gelten als „der Beitrag Meyers zur Verlagsgeschichte des Expressionismus“ (Raabe). Sie eröffneten jenseits der Dichotomie von Zeitschrift und Lyrikband eine Publikationsmöglichkeit, die offenbar von zahlreichen Autor:innen als attraktiv empfunden wurde. Ohne ein ‚Hausautor‘ Meyers zu sein, pflegte Benn das Medium über das expressionistische Jahrzehnt hinaus bis Mitte der 1920er Jahre im Rahmen seiner auf Gedichtzyklen ausgerichteten Publikationsstrategie. Gegen die ökonomisch erfolgreichste Erscheinungsform von Lyrik, die Anthologie, erklärte er mehrfach seine Abneigung, wohingegen das Spannungsfeld zwischen Kollektiv- und Einzelrepräsentation innerhalb dieser Heftreihe für den Individualisten in überzeugender Weise austariert zu sein schien.
Während lyrischen Kleinpublikationen ansonsten in der Regel Konsumierbarkeit zugeschrieben wird, sind expressionistische Varianten wie etwa Benns „Schutt“ (1924), Zechs „Das schwarze Revier“ (1913) oder Lasker-Schülers „Hebräische Balladen“ (1912) im Anspruch durchaus dem Modell von Stefan Georges „Blättern für die Kunst“ und mehr noch der späteren Reihe „Der jüngste Tag“ des Kurt Wolff Verlags vergleichbar. Das Zusammenspiel von geringer Auflagenzahl (zunächst 500 Exemplare, 10 auf Japanpapier), nicht unwesentlichen Herstellungskosten und Erschwinglichkeit ist wohl auf dasselbe Prinzip „Verbreitung durch Verknappung“ (Wegmann) zurückzuführen. Andererseits war bei George wie bei Wolff der in der „Bohèmetradition“ (Anz) stehende Versuch, statt auf ökonomisches auf kulturelles und soziales Kapital zu setzen, deutlich erfolgreicher.
Ausgehend von diesen Beobachtungen ergibt sich eine Reihe von Problemstellungen, von denen fünf hier beispielhaft zur Anregung skizziert werden sollen.
1. Medialität und Materialität:
Offenbar boten die „Flugblätter“ im Expressionismus eine willkommene Ergänzung zu den etablierteren Formaten, im Fall Benns waren sie sogar eine wesentliche Säule seiner Publikationsstrategie. Welche medialen Potentiale sahen die Autor:innen darin? Welche Text-Bild- und Autor-Künstler-Verhältnisse ermöglichten die Hefte? Inwiefern nutzten Autor:innen die durch das spärliche Material vorgegebenen Eigenheiten und Begrenzungen produktiv?
2. Gattungsfragen:
Wie lässt sich am Beispiel des Flugblatts das Verhältnis zwischen den derzeit vielbeachteten „Kleinen Formen“ und der lyrischen „Großform“ Zyklus beschreiben? Eine Analyse unter dem Gesichtspunkt „Zyklizität“, wie sie Matthias Berning zuletzt für Benns „Psychiater“-Gedichtreihe (1917) durchgeführt hat, ist auch für Lyrikformationen in den „Flugblättern“ vielversprechend.
3. Literarisch-ökonomische Kommunikation
Welches Marktsegment und welche Leserschaft sprechen die „Flugblätter“ an? Der Reihentitel prädestiniert das ursprünglich ephemere Medienformat unter anderem zu Gegenwartsbezüglichkeit und Aktualität (‚Chronopoetik‘). Auf welche Rezeptionsweisen zielen die Charakteristika des Medienformats? Werden mit der Kürze der Broschüren bestimmte Aufmerksamkeitsmuster aktiviert? In diesem Kontext lassen sich auch die mit der Publikationsform verbundenen Inszenierungsstrategien untersuchen.
4. Publizistik
Im Zuge der Offenheit des CfP für benachbarte Disziplinen wäre ein Zugang aus publizistischer Perspektive wünschenswert: Welchem Zweck dienen die „lyrischen Flugblätter“, wenn man sie aus Sicht eines Verlags denkt? Mit welchen Unternehmungen in der Publizistik der Avantgarden lassen sie sich kontextualisieren?
5. Einheitlichkeit und Vielfalt
Welche Orientierungsmaßstäbe ergeben sich innerhalb der Reihe? Inwiefern lässt sich ein Normierungsdruck zur Herausbildung eines ‚Epochenstils‘ bemessen? Und (wie) verändert sich dies nach Ersten Weltkrieg? Welche Konstellationen und Netzwerke bilden sich und welche Bedeutung haben sie für das Bild der expressionistischen Generation im Lauf der folgenden Jahrzehnte?
Der Workshop steht explizit offen für Beiträge zu Autor:innen und Akteur:innen aus dem Umfeld Benns (z.B. Else Lasker-Schüler, Paul Zech, George Grosz, A. R. Meyer, Walther Petry, Emile Verhaeren) und richtet sich vorwiegend an Doktorand:innen und Postdoktorand:innen sowie junge Forschende.
Erbeten werden Beitragsvorschläge im Umfang von 250-300 Wörtern bis 1. November 2023 an samuel.mueller@uni-wuerzburg.de und stephan.kraft@uni-wuerzburg.de. Die Beiträge sollen in einem Themenschwerpunkt des Benn Forums (2024/25) veröffentlicht werden. Die Aufsatzfassungen sind bis 1. Dezember 2024 einzureichen.
Vorgesehen sind 25minütige Impulsvorträge mit anschließender Möglichkeit zu Nachfragen. Eine abschließende Diskussionsrunde wird die Gelegenheit bieten, die Thesen der einzelnen Beiträge im größeren Zusammenhang zu erörtern.
Der Workshop findet an zwei Vormittagen (4./5. April 2024) im Deutschen Literaturarchiv Marbach statt. Der dazwischenliegende Nachmittag kann für eine selbständige Arbeitsphase genutzt werden, es werden Plätze dafür im Handschriftenlesesaal des DLA reserviert. Gelder für zwei Übernachtungen, An-/Abreise und Verpflegung der Beitragenden werden akquiriert.
Wir freuen uns auf spannende Diskussionen und Erkenntnisse im Rahmen dieses Workshops zur Literatur der Avantgarde und den lyrischen Flugblättern.