ger: Das Thema Stadt und Film ist vor allem im anglo-amerikanischen Kontext seit den 90er Jahren verstärkt Gegenstand von filmgeschichtlichen und -theoretischen Überlegungen geworden. Inzwischen vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht mehrere Konferenzen zu diesem Thema im Rahmen der Filmforschung abgehalten werden; die Sammelbände sind dementsprechend Legende. Auffallend ist insgesamt, dass trotz der Menge an wissenschaftlicher Literatur zur Beziehung von Stadt & Film nur sehr wenige Studien zu einzelnen Filmstädten, ihrer cinematographische Repräsentation beziehungsweise ihrer Rolle als Ort der Filmproduktion vorliegen. Im Zentrum dieser Arbeit sollen so eine Stadt und ihr Regionalkino stehen, d.h. die lokalen Filmemacher, die Marseille ins Zentrum ihrer Produktionen stellen und sich für ein lokales und regionales Kino engagieren. Dieses Kino wird vor allem mit vier Kino-Filmemachern Marseiller Herkunft in Verbindung gebracht: Marcel Pagnol (30er Jahre), Paul Carpita (50er Jahre), René Allio (60-80er Jahre) und Robert Guédiguian (ab den 80er Jahren). Die vier Filmemacher decken einerseits aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Generationen, andererseits aufgrund ihrer unterschiedlichen Filmästhetik und -praxis ein recht breites Spektrum der Tonfilm- und Kulturgeschichte Marseilles ab: Pagnol ist nicht nur der erste unter den regionalen Filmemachern, der sich mit seiner Stadt auseinandersetzt, er steht auch am Anfang der Filmkarriere Marseilles im Tonfilm. Pagnol verhilft seiner Stadt auch über eine kurze Zeitspanne (1930er bis 1940er Jahre) zu einer unabhängigen und erfolgreichen Filmindustrie. Dies rechtfertigt auch die Vernachlässigung des Stummfilms. Wie Pagnol sind auch die anderen drei Regisseure Vertreter eines cinéma dauteur; sie beziehen aber den städtischen Alltag stärker in ihr Schaffen mit ein. Carpita, der nur wenige Filme dreht, distanziert sich am deutlichsten von Pagnol und fokussiert auf die Industriestadt und das (kommunistische) Engagement gegen die Kolonialkriege. Allio sieht hingegen in Pagnols Interesse für die Popularkultur fruchtbare und nachahmenswerte Ansatzpunkte. Er verfolgt aber selbst eine stark literarisch-künstlerisch und wissenschaftlich inspirierte Auseinandersetzung mit der Stadt. Anders als er widmet Guédiguian bis 2004 sein gesamtes Schaffen der Stadt. Er zeigt ihre Wandlung im Kontext der wirtschaftlichen Globalisierung und der Immigration und kann dabei als einziger neben Pagnol mit 12 bis 2005 gedrehten Marseillefilmen auch auf internationaler Ebene einen künstlerischen Wiedererkennungseffekt erzielen. Darüber hinaus verspricht die Ortskenntnis der Filmemacher Aufschluss über die lokale Geschichte und die Vieldeutigkeit der cinematographischen Erinnerungsorte. Die genannten Cineasten beleuchten die Stadt neu, im Kontext von unterschiedlichen und im Mainstream (lange) nicht präsenten Milieus. Sie nehmen dabei Bezug auf die politische Geschichte und das aktuelle Stadtgeschehen, häufig unter Rekurs auf das urbane und cinematographische Imaginäre. Neben den vier Filmemachern gibt es noch eine Reihe von anderen CineastInnen, die einen engen Bezug zu Marseille haben. Doch auf niemanden von ihnen trifft die Doppelrolle zu, wie sie die oben genannten FilmemacherInnen ausüben. Sie haben zum Großteil in Marseille gelebt, drehen ihre Filme aber nur zuweilen in der Stadt (Claire Denis, Philippe Faucon); sie stammen aus der Stadt, drehen aber nur vereinzelt in ihr (Alain Bévérini, Philippe Dajoux, Christophe Ruggia) beziehungsweise fast ausnahmslos Fernsehdokumentationen (Jean-Louis Comolli). Kurz: Die genannten FilmemacherInnen verbinden mit Marseille verschiedene biographische Aspekte, aber sie engagieren sich hier nicht in der Filmproduktion und filmen nur - mit der Ausnahme Comolli - sporadisch die Stadt Marseille. Aus diesem Grund wird auf sie nur überblicksartig in einem Kapitel über das zeitgenössiche Kino beziehungsweise im Schlusskapitel eingegangen. Von dieser Regel wird in zwei Fällen abgewichen, in dem von Yves Montand und dem von Henri Verneuil. Als erfolgreicher chanteur-acteur beziehungsweise Regisseur zwischen Paris und Hollywood vertreten sie einerseits ein Gegenmodell zum Marseiller Regionalkino. Andererseits drehen beide wenige Jahre vor ihrem Tod Filme, die stark von ihrer Biografie inspiriert sind und den Weggang aus dem peripheren Marseille in die Hauptstadt zum Thema machen. In diesem Sinne sind sie aussgekräftig für die Kulturgeschichte der Stadt und bilden kulturgeschichtlich wie filmästhetisch eine Ergänzung zum Kino von Pagnol, Carpita, Allio und Guédiguian. eng: The diminishing importance of geographical distances as a result of the transformation of industrial production led to mass immigration and internationalisation of the capital markets. But mass immigration and mass products/media are not only a sign of unification, but also of plurality. We can find this ambiguity of unification and differentiation in Marseille, a city with less than a million inhabitants, often considered as the less European city of France. The traditional immigration to Marseille from Italy has become less important during the last few decades and has been compensated by a large range of immigration from (the former French colonies of) Northern and Central Africa, but also of the Comores and Armenia. But this change in local immigration traditions by globalisation is not leading to the creation of a global multicultural city in a strict sense. Intensifying the natural fragmentation (by the hills of the Calanques and Estaques) which structures the city of Marseille, integration processes contradict the popular image of Marseille as a global Mediterranean melting pot. In our Ph.D. we question these ambivalent consequences of (colonialism and)globalisation for the politics of representation of the city by analysing some films of the Marseille regional filmmakers: Marcel Pagnol (30ies), Paul Carpita (50ies), René Allio (60ies to 80ies) und Robert Guédiguian (untill the 80ies). Linked to the idea of the urban since its creation, film could be considered as an art of the imaginary of the metropolis, being so an artistic form of cultural condensation rather than of pure fantasy. In this context we will focus on a choice of cinematographic sites of memory linked with urban immigration in Marseille.
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