Der Fluch des Viktimismus: die belarussische Gegenwartsdichtung im Teufelskreis der Martyrologie
In der belarussischen Literatur etablieren sich bereits zu ihrer Entstehungszeit in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einige bis heute nachwirkende viktimistische Identitätstopoi, unter denen den antikolonialen Hinrichtungsbildern eine...
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In der belarussischen Literatur etablieren sich bereits zu ihrer Entstehungszeit in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts einige bis heute nachwirkende viktimistische Identitätstopoi, unter denen den antikolonialen Hinrichtungsbildern eine besondere Rolle zukommt. Christologische Projektionen schließen dabei abgedroschene Muster des (post-)sowjetischen Heroismus ein. Die ethischästhetische Trägheit solcher martyrologischer kultureller Ikonen wird von der Generation junger Schriftsteller*innen der 1990–2010er Jahre kritisiert und spielerisch demontiert. Der entscheidende Ausbruch aus den Opferparadigmen wird jedoch durch landspezifische außerliterarische Umstände erschwert: Belarus lebt noch immer unter einer repressiven Autokratie, gegen die die Künstler*innen und die Intellektuellen protestieren und dafür entsprechend verfolgt werden. Wider Willen werden somit Gewalterfahrungen immer wieder zum Objekt poetischer (Selbst-)Reflexion. Außerdem ist die Lage des Belarussischen selbst – in Folge der langjährigen Russifizierung – bedroht, was wiederum zu Opfernarrativen verleitet. In unserem Beitrag zeigen wir einige mit dem Viktimismus verbundene Versuchungen und Herausforderungen der belarussischen Gegenwartsliteratur auf und diskutieren einige repräsentative und zugleich originelle Versuche, die erstarrten Opfer-Modelle zu subvertieren bzw. zu transformieren.
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