ger: Die vorliegende Dissertation geht von der Annahme einer konstitutiven Bedeutung geschlechtlicher Identitätskrisen und utopischer Vorstellungen des Androgynen für die ethischen Überlegungen aus, die Ulrich, den "Mann ohne Eigenschaften" unentwegt beschäftigen und vorantreiben und widmet sich damit einem bisher noch völlig unbeachteten Bereich der Musil-Forschung. In einem ersten Teil werden die androgynen Mythen, die im Text direkt oder indirekt Erwähnung finden, auf ihre Relevanz für das musilsche Gedankenexperiment hin untersucht, wobei dieses im zweiten Großkapitel der Arbeit als Teil eines zeitgenössischen Diskurses gezeigt wird, das über die Typizität der modernen Reflexion über ein krisenhaftes Subjekt weit hinausreicht. Der dritte Teil der Arbeit ist schließlich der Analyse des Beziehungsgefüges gewidmet, das den Werdegang des Protagonisten bestimmt und ihn zu der, von Lesern und Kritikern in der Vergangenheit meist fehlinterpretierten inzestuösen Beziehung zu seiner Schwester Agathe führt, in der sich die eigentliche Utopie des Romans manifestiert. Die geschwisterliche Liebe, die einzige Beziehung, in der sich Mann und Frau in sittlicher Freiheit gegenüberstehen, kann als das zentrale Moment der musilschen Ethik ausgemacht werden. Die binäre Logik des patriarchalen Gesellschaftssystems, dem der Protagonist in der "Welt des Seinesgleichen" noch angehört, macht in der Begegnung der Geschwister einem dynamischen Verhältnis der Gleichwertigkeit Platz, in dem die beiden Sphären des Seins, das Ratioïde und das Nicht-Ratioïde eine androgyne Vereinigung erfahren. Die Definition von Ethik, die an dieser Stelle des Textes ihren deutlichsten Ausdruck findet, ähnelt bis in die Wortwahl hinein den Theorien der französischen Philosophin Luce Irigaray, deren Thesen im letzten Teil der Arbeit mit Textstellen aus dem "Mann ohne Eigenschaften" konfrontiert werden. Die enge Verwandtschaft zwischen Irigaray und Musil, die sich etwa in einer teilweise nahezu identischen Metaphorik äußert, lässt eine große Nähe Musils zu einem als typisch postmodern klassifizierten Denken vermuten. In der Gegenüberstellung zentraler Textstellen aus dem "Mann ohne Eigenschaften" mit ebenso zentralen Thesen von Jacques Lacan, Emanuel Lévinas oder François Lyotard, die in einer germanistischen Arbeit allerdings nur rudimentär unternommen werden kann, zeichnet sich die Bestätigung dieser These ab. Die volle Bestätigung erfährt in der Analyse der Bedeutung geschlechtlicher Identitäten und androgyner Utopien aber die Grundthese der Arbeit: Nur in der Überwindung der Furcht des Einen (Subjekts), das seinen einzigen Bezugspunkt in der Unerreichbarkeit der ewigen platonischen Idee hat, vor dem irreduziblen Anderen (Objekt), dessen kreatürliche Vergänglichkeit von einem Verantwortungsgefühl ergänzt wird, das die dichotome Spaltung des Geistes nicht kennt, liegt für den "Mann ohne Eigenschaften" die Möglichkeit eines wahrhaft ethischen Verhaltens des Einen gegenüber dem Anderen, die Möglichkeit, inneren und äußeren Frieden zu finden. eng: The present dissertation proceeds from the assumption that sexual identity crises and utopian ideas of androgyny have a constitutive impact upon the ethical considerations, which incessantly preoccupy and spur on Ulrich, the "man without qualities". In doing so, this dissertation devotes itself to a hitherto completely disregarded area of Musil studies. In the first part, the androgynous myths mentioned directly or indirectly within the text will be analysed in view of their relevance for Musil's Gedankenexperiment (thought experiment). This, in turn, will be portrayed in the second large chapter of this work as part of a contemporary discourse that transcends by far the typified modern reflection upon a crisis-ridden subject. The third part of this work is dedicated to the analysis of the structure of relationships, which determines the development of the protagonist and which leads him to the incestuous relationship to his sister. It is within this relationship - all too often misinterpreted by readers and literary critics in the past - that the true utopia of the novel manifests itself. The sibling love, the only relationship, in which man and woman can face each other in moral freedom, can be identified as the central factor of Musil's ethic. The binary logic of the patriarchal social system, to which the protagonist still belongs within the "world of his equals", makes way through the encounter of the siblings for a dynamic relationship based on equality, in which both spheres of being, the "ratiode" and the "non-ratiode", experience an androgynous union. The definition of ethic, which finds its clearest expression in this point of the text, resembles - even going into its choice of words - the theories of the French philosopher Luce Irigaray, whose theses will be contrasted with text passages from "The Man without qualities" in the last part of this work.The close affinity between Irigaray and Musil, which manifests itself in an almost identical metaphorical language, presumes Musil's great proximity to typical post-modern classified thought. The confirmation of this thesis emerges in the juxtaposition of the central passages of the "Man without Qualities" with the equally central theses of Jacques Lacan, Emanuel Levinas or Francois Lyotard, which certainly can only be undertaken in a rudimentary manner here. However, the analysis of the meaning of sexual identities and androgynous utopias fully confirms the main thesis of this dissertation: In overcoming the fear of the one (subject), who has as his sole point of reference the unattainability of the eternal platonic idea before the irreducible other (object), whose creatural transience is completed by a sense of responsibility that does not know the dichotomous division of the intellect, lies the only possibility for the "man without qualities" to find a true ethical behaviour of the one toward the other; the chance to find inner and outer peace.
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