ger: Zwischen der Herausgeberin sowie 'femme studieuse' Marie de Gournay (1565-1645) und dem Verfasser von Les Essais, Moralphilosophen sowie Staatsmann Michel de Montaigne (1533-1592) bestand eine außergewöhnliche, fingierte Verwandtschaftsrelation: Im Jahr 1588 trafen sich die junge Unbekannte und der arrivierte Renaissancedenker zum ersten Mal in Paris und schlossen einen Bund in Form einer 'alliance'. Fortan nahmen sie aufeinander Bezug als 'père d’alliance' und 'fille d’alliance'. Die lebensweltliche Tragweite dieser Verbindung zwischen dem 'geistigen Ziehvater' Montaigne und seiner 'geistigen Ziehtochter' Marie de Gournay ist aufgrund mangelnder Quellen nur schwerlich fassbar, handelte es sich doch weder um eine durch Blutsverwandtschaft legitimierte noch um eine anderweitig rechtlich beglaubigte Verwandtschaftsbeziehung. Obgleich Montaigne verheiratet und Vater war, sollte es nach seinem Ableben im Jahr 1592 jedoch seine 'Tochter' Marie de Gournay sein, die – mit Unterstützung von Montaignes Witwe und Léonor, der einzigen leiblichen Tochter des Paares,– sowie anderer renommierter Köpfe der Gelehrtenrepublik zu seiner 'geistigen Erbin' avancierte: Marie de Gournay gab fortan jahrzehntelang Les Essais heraus, passte den Text orthographisch an und verteidigte ihn mittels von ihr verfasster Vorworte gegen Kritik. Parallel hierzu schrieb sie ein mehrere tausend Seiten starkes Gesamtwerk, das unter dem Titel Les Advis unterschiedliche Textgattungen und Themen vereint. Zudem trug Marie de Gournay für die Zeit nach ihrem Ableben dafür Sorge, dass sowohl Les Essais als auch Les Advis an die Nachwelt übertragen werden sollten und konnten. Eine komparative Lektüre von Les Essais und verschiedener, von Marie de Gournay verfasster Texte lässt den Schluss zu, dass diesbezüglich eine Kontinuitätslinie zwischen fille d’alliance und père d‘alliance festzustellen ist, welche diese besondere, frühneuzeitlich Übertragungspraxis ermöglichte: Es handelt sich dabei um das semantische Feld rund um den antiken Topos des literarischen Werkes als eigenes, geistiges ‚Kind'. Die Gesamtwerke Montaignes und Marie de Gournays werden ‚vererbt‘, indem sie metaphorisch zu ‚geistigen Kindern‘ stilisiert sowie als künftige ‚Waisen-Kinder‘ in und durch Nennungen in verschiedenen Texte einem Vormund angetragen werden. Die Arbeit beschäftigt sich, ausgehend von dieser außergewöhnlichen alliance zwischen Marie de Gournay und Montaigne, mit Fragen des Erbens und Vererbens literarischer Werke in der Frühen Neuzeit, wobei textanalytische Zugänge durch kulturgeschichtliche, erbrechtliche und literatursoziologische Betrachtungen ergänzt wurden. eng: French writer, politician, and moral philosopher Michel de Montaigne (1533-1592) and his ‘covenant daughter’, editor and writer Marie de Gournay (1565-1645), shared a special bond. When the young, previously unknown woman and her idol met in Paris in 1588, they forged an alliance beyond blood ties, calling each other ‘spiritual father’ (‘père d’alliance’) and ‘spiritual daughter’ (‘fille d’alliance’). After her ‘father’ died, Marie de Gournay became a writer in her own right as well as the editor, preserver, and defender of Montaigne’s oeuvre. Surprisingly enough, although she had never been officially adopted by Montaigne, his fille d’alliance was supported as Montaigne’s ‘spiritual heir’ and as the editor of his magnum opus, Les Essais, by his widow and Léonor, his natural daughter, as well as by influential members of the Republic of Letters. Throughout her life, and in parallel to her career as Montaigne’s editor, Marie de Gournay wrote thousands of pages on various topics and published them under the title Les Advis. Scholarly attempts to define this unique relationship between the elderly writer Montaigne and the young erudite Marie de Gournay had to cope with the nonexistence of historical and juridical sources. A comparative study of Les Essais and of various other texts written by Marie de Gournay shows that his unique bond is echoed through their original interpretation of the ancient metaphor of the text as a textually, spiritually born child, both for Montaigne’s as well as for Marie de Gournay’s texts. Proceeding from this unusual alliance between Marie de Gournay and Montaigne, this work investigates the inheriting and bequeathing of literary works in the Early Modern era, combining text analytical approaches with observations from the fields of cultural history, inheritance law, and literary sociology.
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