Elisabetha, geborene Scheuchzer, Witwe des Drechslermeisters Rudolf Keller, galt der älteren Literaturgeschichte als Beispiel einer Dichtermutter, die den schwierigen Werdegang ihres Sohnes unverbrüchlich solidarisch begleitete. Ihr Ansehen wird heute durch das Urteil der genannten Autoren verdunkelt. Kaiser spricht ihr die Fähigkeit zur Gefühlserziehung ab und dämonisiert sie zur Eismutter und Meduse. Muschg stellt sie als beschränkte Person dar, deren achtjährige Ehe mit dem Gesellen ihres frühverstorbenen Mannes den Sohn psychisch schwer geschädigt und vermutlich physisch 'verzwergt' habe, - Ansichten, die der Konfrontation mit den kürzlich wiederentdeckten Prozeßakten nicht standhalten: Elisabeth Keller wurde von ihrem zweiten Gatten wenige Monate nach der Eheschließung verlassen und öffentlich schwer gekränkt. Von einer konfessionell engherzigen Ehegerichtsbarkeit jahrelang hingehalten, setzte sie ihre Scheidung durch. Die Haltung, die sie vor Gericht bewies, unterstützt die These, daß sie ihren beiden Kindern eine gute Mutter und Gefühlserzieherin war. Nicht sie hat ihren Sohn verletzt, sondern Männer, welche von weiblichen Rechten gering dachten. Zu diesen mag auch der Prorektor und gewesene geistliche Eherichter Meyer gehört haben, der Keller wegen eines Knabenstreiches von der weiteren Schulbildung ausschloß. Frei von quellenkritischen Bedenken im Umgang mit Lebenszeugnissen, vereinnahmen Muschg und Kaiser den Dichter als Zeugen gegen seine Mutter und unterschätzen dabei seine Fähigkeit, ihr Liebes- und Eheschicksal geistig zu durchdringen. Die schützende Haltung, die er ihr gegenüber einnahm, wird von einer bev... Erstmals werden hier Akten des Scheidungsprozesses veröffentlicht, der zur Auflösung der zweiten, unglücklichen Ehe Elisabeth Kellers (1787-1864), der Mutter des Zürcher Dichters, führte. Sie gewähren Einblick in ein bisher kaum dokumentiertes Kapitel der Kellerschen Kindheits- und Jugendbiographie und nötigen zur Revision gewisser, angesichts der unsicheren Quellenlage weit überzogener Annahmen, auf die sich Adolf Muschg in seinem einflußreichen Essay ("Gottfried Keller", 1977) und Gerhard Kaiser in seiner anspruchsvollen Deutung des Kellerschen Werkes ("Das gedichtete Leben", 1981) vor allem stützen, wenn sie von seiner Mutter das Bild einer Frau entwerfen, die ihren Sohn an sich gefesselt und seiner Autonomie und Glücksfähigkeit beraubt habe.
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