Dissertation
Autor*in: Rebecca Heinrich

Schwule Helden. Aids-Narrative und Emanzipation

In meinem Dissertationsprojekt gehe ich der Frage nach, in welchem Zusammenhang diskursive Konzepte von Heldentum vor dem Hintergrund der schwulen Emanzipationsbewegung seit den 1960er Jahren mit literarischen Konstruktionen homosexueller Männlichkeiten in literarischen Erzählungen über Aids stehen.  In der deutschsprachigen, nordamerikanischen und französischen Literatur treten homosexuelle männliche Figuren und Erzähler seit den späten 1960er Jahren als Helden auf, obwohl diese Männlichkeiten signifikant vom Idealtypus (Max Weber) des Helden abweichen - erstens aufgrund ihrer Homosexualität und ihres Opferstatus, zweitens aufgrund der HIV-Infektion und/oder der Krankheit Aids. Diese intersektionale Perspektive auf Heldentum in der Aids-Literatur ermöglicht es, die normative Wirkung des Helden auf die Geschlechterkonfiguration zu dekonstruieren. Denn durch den Helden werden Vorstellungen von idealer Maskulinität hervorgehoben, denen alle Geschlechter entsprechen müssen. 

Obwohl die Aids-Literatur der 1980er und 1990er Jahre gut erforscht ist und es Studien zu ihren kanonischen Autoren (Hervé Guibert, Edmund White, Mario Wirz) gibt, wurden bisher weder die auffällige Heroisierung schwuler Figuren und Erzähler beleuchtet, noch die damit verbundenen Prozesse der Konstruktion von Männlichkeit untersucht. Indem der literarische Diskurs als ein Fragment des gesellschaftlichen Diskurses betrachtet wird, ermöglicht die Heldenperspektive, die Gründe zu beleuchten, warum literarische Texte mit homosexuellen männlichen Figuren und Erzählern seit den späten 1960er Jahren zunehmend als Heldennarrative gestaltet werden. Dies ermöglicht es, die Prozesse der literarischen Konstruktion von Männlichkeiten aufgrund einer Orientierung an Darstellungen einer idealen heroischen Männlichkeit zu verstehen, die die Vorstellungswelten hegemonialer Maskulinität prägen (Raewyn Connell). Aufgrund ihres kritischen und utopischen Potenzials (Toni Tholen), aber auch ihrer restaurativen Tendenzen (Toni Tholen), sind literarische Werke sowohl für die Perspektive der Helden- und Männlichkeitsforschung als auch für die der Maskulinitäts- und Heldenforschung von besonderem Interesse. So können Erkenntnisse über die inklusiven und exklusiven Konstruktionsprozesse von Maskulinität, über deren Affirmation und Subversion gewonnen werden.

Meine Arbeit konzentriert sich schwerpunktmäßig auf die Literatur der Jahre 1985-2001, da die Heroisierung homosexueller männlicher Figuren und Erzähler in literarischen Narrativen eine Konjunktur mit der Verhandlung von Aids als neuer Krankheit von pandemischem Ausmaß erfährt. Die Verbindung der Motive Homosexualität, Krankheit und Tod wird durch das "Todesurteil" von in den 1980er und 1990er Jahren radikalisiert: Die literarische Produktion schwuler Autoren wird zum außerliterarischen Kampf gegen das Schweigen über Aids; die Literatur selbst wird zum Zeugnis der schwulen Kämpfe gegen die doppelte Stigmatisierung. Aids, das in der Literatur als Diskurs über Krieg, Apokalypse und Emanzipation behandelt und mit martialischen Metaphern beschrieben wird, stellt somit ein hochgradig agonales Testfeld für männliche Figuren und Erzähler dar. Durch die Fokussierung auf schwule Männer und ihre individuellen Schicksale vor dem Hintergrund der Schwulengemeinschaft, durch die je nach Werk unterschiedliche heroische Perspektivierung von Aids - als Auszeichnung, als Zeichen der Genialität, als Katalysator für die literarische Produktion des männlichen Künstlers - erscheinen die "schwulen Helden" der Aids-Literatur als intersektionale Herausforderung der idealtypischen heroischen Maskulinität und als emanzipatorische Figuren im Kampf für Gleichberechtigung.

Einrichtungen

Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
SFB948 "Helden - Heroisierungen - Heroismen"

Forschungsgebiete

Literatur aus Nordamerika, Literatur aus Deutschland/Österreich/Schweiz, Französische Literatur, Digital Humanities, Literaturgeschichtsschreibung (Geschichte; Theorie), Rezeptionsästhetik, Gender Studies/Queer Studies, Erzähltheorie, Interdisziplinarität, Literatur und Kulturwissenschaften/Cultural Studies, Roman, Erzählung, Autobiographie, Tagebuch, Literatur des 20. Jahrhunderts, Literatur des 21. Jahrhunderts
Beitrag von: Rebecca Heinrich
Datum der Veröffentlichung: 31.05.2022
Letzte Änderung: 31.05.2022