Workshops, Seminare

Rückkehr des Ressentiments? Stereotype in Medien, Kulturphilosophie und Literatur, Schloss Wiepersdorf

Beginn
26.09.2024
Ende
29.09.2024

Rückkehr des Ressentiments? Stereotype in Medien, Kulturphilosophie und Literatur

26.–29.09.2024

Kulturstiftung Schloss Wiepersdorf
Bettina-von-Arnim-Str. 13
14913 Niederer Fläming

Ausgerichtet von Prof. Dr. Claudia Öhlschläger (Paderborn), Dr. des. Tillmann Heise (Paderborn), Prof. Dr. Daniela Gretz (Paderborn) und Prof. Dr. Marcel Lepper (Sierre), gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg

 

Betrachtet man gegenwärtige (gesellschafts-)politische Diskurse und Entwicklungen, vom demokratiegefährdenden Erstarken des Rechtspopulismus und -extremismus bis hin zur vielfach konstatierten Polarisierung der Gesellschaft, scheint man es mit einer veritablen Konjunktur des Ressentiments zu tun zu haben. Diese spiegelt sich auf zweiter Ebene auch in jüngeren zeitdiagnostischen Erklärungsansätzen unterschiedlicher Disziplinen wider, die das Ressentiment zur Signatur der spätkapitalistischen, globalisierten Gegenwart erklären (Koschorke 2021; Vogl 2021; Fleury 2023). Wenn wir im Titel nach der „Rückkehr des Ressentiments“ fragen, impliziert das gleichwohl nicht, dass es jemals völlig verschwunden gewesen sei. Ebenso wenig wollen wir insinuieren, dass frühere Formen des Ressentiments nach einer Phase vorübergehender Abwesenheit nun unverändert wieder auftauchen würden. Viel eher gehen wir davon aus, dass das Erstarken ressentimentgeladener Denk- und Sprachformen gegenwärtig einerseits auf aktuelle politische, sozioökonomische und -kulturelle Herausforderungen reagiert (Weissgerber 2019) und dabei andererseits und gleichermaßen auf ältere Artikulationsweisen des Ressentiments Bezug nimmt.

Was dabei unter Ressentiment zu verstehen sei, ist durchaus diskussionswürdig, wiederum selbst Gegenstand einer traditionsreichen theoretischen Auseinandersetzung und wird auch auf dem Workshop zu diskutieren sein. Basal könnte man festhalten, dass sich mit dem Begriff „Ressentiment“ Gefühle negativen Inhalts (Unterlegenheit, Neid, Missgunst, ‚heimlicher Groll‘) verbinden, die eine gewisse Resistenz und Dauerhaftigkeit entwickeln. Bereits 1887 betrachtet Friedrich Nietzsche das Ressentiment in seiner Abhandlung Zur Genealogie der Moral als (Selbst-)Vergiftung allgemeiner Wertschätzungen. Max Scheler wiederum hält 1912 (Das Ressentiment im Aufbau der Moralen) das Ressentiment für eine typisch moderne Erscheinung, die in Gesellschaften auftritt, die, wie in Demokratien, Menschen zwar formal gleichstellen, in denen jedoch Unterschiede bestehen hinsichtlich der Verteilung von Macht, Bildung, Vermögen und sozialem Status. Beim Ressentiment handele es sich somit um „das wiederholte Durch- und Nachleben einer bestimmten emotionalen Antwortreaktion gegen einen anderen“, die sich tief „ins Zentrum der Persönlichkeit“ einsenke. (Scheler 1912, 2) Einen wiederum anderen Akzent setzt Michel Foucault in seinen Vorlesungen am Collège de France in den 1970er Jahren, indem er das Ressentiment „nicht nur als Affekt und Defekt, sondern auch als Inspiration zum Widerstand und zur schöpferischen Tat, die im ‚Nein‘ des Ressentiments steckt“, deutet. In dieser Lesart wird das Ressentiment auch als Gegenstand der Literatur bzw. der Literaturwissenschaft interessant, wie Klaus Scherpe bereits 2008 aufgezeigt hat: In den „Figurationen der Literatur“, so Scherpe, werde die affektive Flexibilität und Dynamik der „komplexe[n], sich steigernden Verweisungsstruktur“ des Ressentiments sichtbar, das, wenig eindeutig, Unmut streue. Und dies umso mehr, als Literatur sich analog der Reaktionsstruktur des Ressentiments durch Wiederholung, Nachträglichkeit, aber auch Revision im Sinne von Störung/Verstörung kennzeichne. (Scherpe 2008, 168f.)

An dieser Stelle will der Workshop einsetzen, der sich besonders für die sprachlichen und medialen Konstruktions-, Repräsentations- und Distributionsformen von Ressentiments interessiert. Dabei ist die Hypothese leitend, dass für die Artikulation und Wirksamkeit von Ressentiments Stereotype eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Dem Historiker Hans Henning Hahn (1995; 2002) zufolge sind Stereotype vereinfachte, verfestigte kollektive Zuschreibungen mit vorwiegend emotionalem Gehalt, die nur in ihren sprachlichen und bildlichen Dimensionen zu fassen sind. Es handelt sich um sozialisationsgeschichtlich (v.a. in medialer Kommunikation) erworbene und unbewusst übernommene kognitive Konzepte (vgl. auch Thiele 2015). Sie ziehen die mit Prozessen der Identitätsbildung und Selbstaufwertung verbundene Bewertung bzw. Abwertung Einzelner oder Gruppen beispielsweise in nationaler (Florack 2001; 2007), ethnischer (Dürbeck 2007), sozioökonomischer/-kultureller und/oder geschlechtsspezifischer Perspektive nach sich. 

Der Workshop in der Kulturstiftung Wiepersdorf möchte aus literatur- und sprachwissenschaftlicher Perspektive Zusammenhänge und Wechselbeziehungen zwischen Stereotypenbildung und Ressentiments genauer in den Blick nehmen, dabei beide als Denkfiguren und in ihren visuellen und literarischen Modellierungen analysieren. Damit werden Fragen nach den medialen, politischen, historischen, diskursiven Bedingungen der Entstehung, Verbreitung, Transformation und Auswirkung von individuell und kollektiv wirksamen, durchaus auch unbewusst sich verstärkenden Deutungsmustern aufgeworfen. Kulturphilosophie, Literatur, Film, (digitale) Medienberichterstattung und Informationsaustausch auf Social Media und anderen Plattformen sind Teil der medialen, narrativen, interpretativen Konstitution von kulturellen sowie politischen Stereotypen. Deren serielle Wiederholung führt einerseits zu Verfestigung und historischer Beglaubigung (vgl. Bhabha 1994), ermöglicht andererseits aber durchaus auch Verflüssigung, Veränderung oder gar Widerrufung. 

In gemeinsamen Diskussionen sollen die anthropologischen Bedingungen der Stereotypisierung (Orientierung, Kommunikation, Identitätsbildung), ihre historische, kulturelle, mediale und politische Kontextabhängigkeit, ihre ästhetischen Ausdrucksformen sowie Strategien der Sensibilisierung für die Wahrnehmung stereotypisierenden Denkens erörtert und Möglichkeiten der kritischen Reflexion bzw. Intervention erwogen werden.

 

Erwähnte Literatur:

  • Bhabha, Homi K.: The Location of Culture. London/New York 1994.
  • Dürbeck, Gabriele: Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschen Südseeliteratur 1815–1914. Tübingen 2007 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 115).   
  • Fleury, Cynthia: Hier liegt Bitterkeit begraben. Über Ressentiments und ihre Heilung. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Berlin 2023. [frz. Original: Ci-gȋt l’amer. Guérir du ressentiment, 2020].
  • Florack, Ruth: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur. Tübingen 2007 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 114). 
  • Florack, Ruth: Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur. Stuttgart u.a. 2001. 
  • Hahn, Hans Henning (Hrsg.): Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen. Frankfurt am Main u.a. 2002.
  • Hahn, Hans Henning (Hrsg.): Historische Stereotypenforschung. Methodische Überlegungen und empirische Befunde. Oldenburg 1995.
  • Koschorke, Albrecht: Identität, Vulnerabilität und Ressentiment: Positionskämpfe in den Mittelschichten. FGZ Working Paper Nr. 1. Leipzig 2021.
  • Scheler, Max: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen [1912]. Hg. von Manfred S. Frings. Frankfurt am Main 1978 (Klostermann Texte: Philosophie).
  • Scherpe, Klaus R.: Ressentiment. Eine Gefühlstatsache. In: Weimarer Beiträge 54/2 (2008), S. 165–181.
  • Thiele, Martina: Medien und Stereotype. Konturen eines Forschungsfeldes. Bielefeld 2015.
  • Vogl, Joseph: Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart. München 2021.
  • Weissgerber, Cristian Ernst: Die neue Lust am Ressentiment. Grundzüge eines affekttheoretischen Ressentiment-Begriffs. In: Affekt Macht Netz. Auf dem Weg zu einer Sozialtheorie der Digitalen Gesellschaft. Hg. von Rainer Mühlhoff, Anja Breljak und Jan Slaby. Bielefeld 2019 (Digitale Gesellschaft 22), S. 225–244.

 

Programm

Donnerstag, den 26. September

Individuelle Anreise

 

Freitag, den 27. September

9.30–10.00h: Begrüßung und Einführung

Sektion I: Theoretische Annäherungen

10.00–11.00h: Prof. Dr. Britt-Marie Schuster (Paderborn): Die Bedeutung der Form: Überlegungen zur Diskursgrammatik des Ressentiments 

11.00–11.30h: Kaffeepause

11.30–12.30h: Prof. Dr. Marcus Twellmann (Hamburg): Das Ressentiment der Anderen 

12.30–14.30h: Mittagspause

Sektion II: Race, Class, Gender

14.30–15.30h: Prof. Dr. Daniela Gretz (Paderborn): Afrikanistische Stereotype in neurechten Diskursen und der Schwarzen (afro-)deutschen Literatur

15.30–16.30h: Prof. Dr. Eva Blome (UniBW München): Ressentiments im Diskurs über Klassen – sozialtheoretische und literarische Perspektiven

16.30–17.00h: Kaffeepause

17.00–18.00h: Dr. Robert Walter-Jochum (FU Berlin): Der alte weis(s)e Mann am großen Berg. Bedrohte Männlichkeit, Ressentiment und Kulturkampf in Kilimandscharo-Texten von Matthias Politycki und Arnold Stadler

19.00h: Abendessen

 

Samstag, den 28. September

Sektion III: Gegenbewegungen

9.00–10.00h: Prof. Dr. Marcel Lepper (Sierre): Gegen Ressentiment: Imagination? Möglichkeiten und Grenzen eines Konzepts

10.00–11.00h: Anna Maria Spener, M.A. (Paderborn): „Die Deutschen“ – „die Juden“? Desintegrative Relektüren der Stereotypenbildung in der jüdischen Gegenwartsliteratur

11.00–11.30h: Kaffeepause 

11.30–12.30h: Dr. des. Tillmann Heise (Paderborn): „Thomas liebt an Kulturen gerade das Hybride.“ (De-)konstruierte Stereotype in Thomas Meineckes Lookalikes (2011)

12.30–14.30h: Mittagspause

Sektion IV: Fallstudien I

14.30–15.30h: Prof. Dr. Lothar van Laak (Paderborn): Ressentiment beim frühen Bertolt Brecht

15.30–16.30h: Dr. Nicolai Busch (Mannheim): „Kein abstoßenderes Gefühl“. Das Ressentiment in Karl Heinz Bohrers Essays und Erzählungen

16.30–17.00h: Kaffeepause

17.00–18.00h: Dr. Lena Seauve (FU Berlin): Ressentiment und Gewalt in der französischen Gegenwartsliteratur. Zur strategischen Perspektivierung von Stereotypen

19.00h: Abendessen

 

Sonntag, den 29. September

Fortsetzung Sektion IV: Fallstudien II

9.00–10.00h: Prof. Dr. Jürgen Brokoff (FU Berlin): Ressentiment und die Figur des Außenseiters: Botho Strauß

10.00–11.00h: Prof. Dr. Claudia Öhlschläger (Paderborn): Neo Rauch, das Problem der „Siegerkunst“ und die Ambivalenz des Ressentiments

Ab 11.00h: Individuelle Abreise

 

Contact Email

tillmann.heise@uni-paderborn.de

Quelle der Beschreibung: Information des Anbieters

Forschungsgebiete

Literatur und Soziologie, Literatur und Kulturwissenschaften/Cultural Studies, Ästhetik, Rhetorik, Stoffe, Motive, Thematologie

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Einrichtungen

Kulturstiftung Wiepersdorf
Datum der Veröffentlichung: 16.09.2024
Letzte Änderung: 16.09.2024