Ausgehend von dem Paradoxon, dass Baudelaire in der literaturwissenschaftlichen Diskussion zwar einerseits stets als Begründer der literarischen Moderne genannt wird (Friedrich, Raymond), andererseits jedoch in nahezu allen Untersuchungen zur literarischen Darstellung der Großstadt als Endpunkt erscheint (Citron, Stierle), wird in der vorliegenden Arbeit der Versuch unternommen, die These von der traditionsbildenden Potenz der Fleurs du Mal auf den Stadtdiskurs zu übertragen und zu zeigen, dass der von Baudelaire ingeniös etablierte Zusammenhang von Großstadtwahrnehmung, Erinnerung und Imagination nicht nur Endpunkt, sondern vielmehr auch und vor allem Ausgangspunkt ist und auf diese Weise grundlegend für eine Reihe bedeutender Texte des 20. Jahrhunderts wird. Bereits Walter Benjamin konnte feststellen, dass bei Baudelaire die Großstadt auf der Ebene der Referenz kaum fassbar ist, weshalb das Motiv der Großstadt für eine Ästhetik der Moderne vor allem in formaler Hinsicht von Bedeutung ist: Die neuartigen Formen der Wahrnehmung im urbanen Raum lassen die semantische Fixierung der komplexen Wirklichkeit prekär werden und tragen wesentlich zur Entwicklung moderner ästhetischer Darstellungsweisen wie Kontextsimultaneität, Polyperspektivität und Fragment bei, die eng mit dem dynamisierten Sehen in der Großstadt verbunden sind. Im Text kommt es dadurch zu charakteristischen Überlagerungen von Wahrnehmung und Reflexion. In der Arbeit wird die Entstehung dieser urban geprägten Ästhetik der Moderne vor dem Hintergrund poetologischer Konstellationen des 19. Jahrhunderts nachgezeichnet. Der amimetische Impuls von Baudelaires Tableaux parisiens wird jedoch nur verständlich, wenn man die Erfindung der Fotografie berücksichtigt: Die Großstadt erscheint dabei als Motiv, an dem sich sowohl die Fotografie als auch die Literatur ihrer jeweiligen spezifischen Möglichkeiten und Grenzen versichern. Vor dem Hintergrund der medialen Innovation erklärt sich Baudelaires resolute Absage an eine Nachahmungsästhetik und seine Abkehr von ...
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