Unter welchen Bedingungen kann transnationale Politik in einer Welt gravierender Ungleichheit gerecht sein, ohne zu bevormunden? Wenn Hilfeleistung und Entwicklungszusammenarbeit durch eine Form der Gegenseitigkeit ersetzt würden, die Geber und Empfänger gleichermaßen verändert – wäre dies dann gerechter oder ist Gerechtigkeit per se ein Paradox? Unter Einbeziehung postkolonialer Theorien diskutiert Franziska Dübgen, inwiefern die transnationale Entwicklungshilfe eine Form der Machtausübung darstellt, die grundlegende Beziehungen der Ungerechtigkeit fortschreibt. Einleitung Bei einem Sparziergang durch die Hauptstadt Ghanas begegnete mir vor mehreren Jahren ein Taxi, das vor einem modernen Internetcafé geparkt war und auf dem ein Schild befestig war mit der Aufschrift: »Respect the poor!«. Entgegen dem gewöhnlichen Alltagsverständnis forderte der Besitzer dieses Wagens nicht, Armen zu helfen oder Armut zu bekämpfen. Er forderte etwas bei Weitem Schwierigeres und Provokanteres: den Armen Respekt entgegenzubringen. Die Aufschrift auf dem Schild in Accra begleitete mich in den nächsten Monaten und Jahren in meiner Forschung. Ich fing an, darüber nachzudenken, wie dieses Verlangen interpretiert werden sollte: Einerseits könnte man annehmen, der Verfasser weise daraufhin, dass als Arme stigmatisierte Akteure häufig zusätzliche Demütigungen erfahren, welche über eine zunächst materielle Enteignung hinausreichen. Andererseits könnte man diese Selbstaffirmation positiv wenden und davon ausgehen, dass hier Armut als eine Form des einfachen Lebensstils bewusst vom konsumorientierten Kapitalismusmodell unterschieden wird. Schließlich lenkt der Autor der Aufschrift unser Augenmerk auf die Bewohner Accras selber, die sich trotz ihrer Armut behaupten und trotz ihrer Marginalisierung ins Armenviertel sich ihrer selbstbewussten Stimme nicht berauben lassen. Eine weitere Intuition begleitete diese Forschung, die ich im Rahmen der Lektüre von Schriften über globale Gerechtigkeit, die sich mit Fragen von Armut und Entwicklung befassten, stets aufs Neue mit Unbehagen hegte: Die wiederkehrende Beobachtung, dass »Entwicklungspolitik«, Armut und Gerechtigkeit zwar häufig als komplementäre Begriffsfelder zueinander gedacht werden, praktisch wie auch normativ jedoch nicht unbedingt zueinander gehören und häufig einander sogar widersprechen. Inhalt Einleitung 11 1. Das Entwicklungsdispositiv und die Konstruktion der Armen 26 1.1 Das Entwicklungsdispositiv 26 1.1.1 Eine kurze Genealogie der Idee menschlicher Entwicklung 27 1.1.2 Der politische Diskurs der Entwicklung 46 1.1.3 Post-Entwicklung oder kritische Entwicklungstheorie – eine Debatte 53 1.2 Die Armen und die Armut 58 1.2.1 Metamorphosen des Armutsbegriffs 60 1.2.2 Das Grundbedürfnissubjekt als Fiktion eines nackten Lebens 62 1.2.3 Armutsdiskurse als psychologisches Herrschaftsregime 66 1.2.4 Sens Capability-Ansatz als ethisches Konzept der Armutsbemessung 69 1.3 Ein globales Pluriversum – Antithesen zu Armut und Entwicklung 75 2. Topoi der Kritik: Perspektiven auf »Entwicklungspolitik« aus dem globalen Süden 85 2.1 Abhängigkeit 86 2.2 Asymmetrien 88 2.3 Zirkularität 90 2.4 Macht 91 2.5 Kontrolle 94 2.6 Enteignung 95 3. Kritische Theorie, Postkoloniale Theorie und machtreflexive Übersetzung 97 3.1 Postkoloniale Skepsis gegenüber den moralphilosophischen Begründungsnarrativen von Kritik und politischer Praxis 97 3.2 Der Postkoloniale Feminismus als »Kritik der Kritik« 106 3.2.1 Racialising des Gerechtigkeitsdiskurses – Perspektiven aus den Critical Race Studies 111 3.3 Moralphilosophie als Kritik – diskursiver Widerstand im transnationalen Raum 116 3.4 Zur Übersetzbarkeit moralphilosophischer Kategorien 118 3.4.1 Übersetzung als argumentative Methode interkulturellen Philosophierens 122 3.4.2 Übersetzung als Dekolonisierung und Transformation 126 3. Franziska Dübgen, Dr. phil., ist Fellow am Lichtenberg-Kolleg in Göttingen.
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