Dieser Artikel behandelt den österreichischen Autor Adolf Dessauer (1849-1916), einen Chronisten der Wiener Sitten der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Von Beruf Bankier und Schriftsteller aus Liebhaberei, veröffentlichte Dessauer zwei Romane ("Götzendienst", 1896 und "Großstadtjuden", 1910), die zu Zeiten rasanter wirtschaftlicher und sozialer Wandlungen in der Habsburger Metropole spielen und die heute nahezu vergessen sind. Dessauer richtet seine Aufmerksamkeit auf die Klasse, die mit dem Siegeszug des Wirtschaftsliberalismus aufgestiegen und sich immer mehr mit der dekadenten Aristokratie der österreichischen Hauptstadt verbunden hatte, deren Geschmack und Umgangsformen sie nachahmte. Im Unterschied zu anderen europäischen Nationen schuf das Bürgertum des Habsburger Reiches kein eigenständiges kulturelles oder ästhetisches Repertoire, sondern versuchte, sich auf dem Wege der Imitation die kulturellen Werte des Adels anzueignen, was eine Klasse von Nachahmern hervorrief, auf die Dessauer seinen durchdringenden und ironischen Blick richtete. Gleichzeitig zeigt Dessauer, wie die Partei der antisemitischen Christdemokraten in Österreich unter der Schicht der Handwerker ihre Wähler rekrutierte, die im Zuge der neuen wirtschaftlichen Ordnung proletarisiert wurden: An diese verarmten Handwerker richtet sich die von Dr. Karl Lueger geführte Kampagne, der den Wirtschaftsliberalismus mit dem Judentum und den Juden identifizierte. In "Großstadtjuden" beschäftigt sich der Autor mit denselben Erscheinungen, jedoch aus einem streng jüdischen Blickwinkel, der ausgeht von einigen Familien und der Art, wie jede von ihnen auf den wachsenden Antisemitismus in der österreichischen Hauptstadt reagiert. Im Rückblick stellt sich die Geschichte der österreichischen Juden, zu jener Zeit die nach Warschau zweitgrößte Gemeinde in Europa, in diesem Roman als ein Vorspiel der Geschichte der Juden Europas im 20. Jahrhundert dar, was diesem literarischen Werk, das zum Vergessen verurteilt schien, ein unerwartetes Interesse verschafft. This article takes a new look at the novels of the Austrian Jewish writer Adolf Dessauer (1849-1916). Dessauer wrote an ironic chronicle of his contemporaries' world in turn-of-the-century Vienna. A banker by profession and an amateur novelist, he published two novels in his lifetime ("Götzendienst", in 1896, and "Großstadtjuden", in 1910), both taking place in the Habsburg capital, which was then undergoing a process of rapid economic and social change. Though his books are nowadays virtually forgotten, Dessauer was a very accurate chronicler of the customs of the social class which ascended with economic liberalism, and which became increasingly close to the empire's declining aristocracy, mimicking its tastes and habits. As opposed to what happened in other European nations, the bourgeoisie in the Habsburg Empire never attempted to construct its own aesthetic and cultural repertoire, but consistently imitated the aristocratic patterns of its time. Dessauer makes a biting and ironical portrait of this class and its attempt at aristocratic appearances. He also shows how Karl Lueger's Christian anti-Semitic party in Austria recruited its voters from the impoverished class of artisans, which had lost space as a consequence of the establishment of a new economic order. Lueger's political campaign was directed towards this growing class, and he identified the rise of liberal capitalism with Jews and Judaism. In "Großstadtjuden" Dessauer looks at the same phenomena, but does so from a strictly Jewish point of view. His second novel portrays the reactions of a number of Jewish families from Vienna to rising anti-Semitism. This historical aspect of the Viennese Jewish community, which was Europe's numerically largest after Warsaw's, is a striking prelude to the history of European Jewry in the 20th.century, thus giving Dessauer's work an unexpected afterlife.
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