Wintersemester 1984/1985: Vor einem begeisterten Publikum hält Ernst Jandl seine Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Seit den sechziger Jahren zählte Jandl zu den wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellern experimenteller Lyrik und Theaterstücke, hier nun filmt ihn die Kamera im Hörsaal: beim Sprechen, Pfeifen, Wangenaufplustern, Grimassieren. Wir sehen den Autor mit Rasanz, Ironie, Boshaftigkeit und Lust an Lauten und Tönen seine "visuellen lippengedichte" darbieten, bei geschlossenem Mund seinen "beitrag zur neuen innerlichkeit" zu Gehör bringen oder liebevoll Kurt Schwitters "Kleines Gedicht für große Stotterer" vortragen ("Ein Fischge, Fisch, ein Fefefefefischgerippe / Lag auf der auf, lag auf der Klippe"). Und er verhöhnt - natürlich - die Spießermoral der vermeintlichen Humanisten, indem er ihnen ihre Unmenschlichkeit in "heruntergekommener Sprache" lyrisch verwandelt entgegenschleudert ("ich sein sprachenkunstler, sprachenkunstler / ich dir zitieren einen goethen"). Wir haben Teil an den bis heute wohl heitersten Poetik-Vorlesungen, die Jandl selbst in ein Kunstwerk verwandelt und die - so lautete das begeisterte Urteil so gut wie aller, die dabei waren und damals oder seither darüber gesprochen oder geschrieben haben -: "man einfach gesehen haben muss!" Und zwar im Doppelsinn: einmal mit Betonung auf dem "muss", ist dies doch die umfassendste, facettenreichste Positionsbestimmung und zugleich auch Werkschau des populärsten deutschsprachigen Avantgardedichters der Nachkriegszeit; zum anderen aber mit Betonung auf "gesehen", denn wenn es je eine Vorlesung gegeben hat, die so sehr selber Poesie und deren eigentliche Werkform nicht der Text, sondern die Bild-Ton-Wiedergabe ist, dann Jandls "Öffnen und Schließen des Mundes". "Es bedarf eines hörbaren und sichtbaren Sprechers, und es bedarf eines Publikums. Auf Videoband bekommt jeder es ebenfalls komplett; auf Schallplatte nur noch einen Teil davon; noch viel weniger auf der Buchseite." Ernst Jandl, Das Öffnen und Schließen des Mundes (Absolut Medien)
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