Zeit & Kybernetik in der Literatur & den Künsten, Berlin
In der Literatur und den Künsten der Gegenwart werden verstärkt Wahrnehmungsweisen und Darstellungsformen reflektiert bzw. entworfen, die im Hinblick auf die stetig zunehmende Digitalisierung einen primär anthropozentrischen Begriff von Zeitlichkeit in Frage stellen. Man denke etwa an Judith Schalanskys Prosawerk „Verzeichnis einiger Verluste“ (2018), in dem über das Schreiben von Listen eine Zeitlogik des Während entwickelt wird, eine Wahrnehmungsform der Gleichzeitigkeit, unter der unterschiedslos alles verarbeitet und gespeichert wird, was ins System eingespeist wird; oder an Jeremy Shaws filmische Arbeiten in der Ausstellung „Quantification Trilogy“ (2018), die Randgesellschaften der Zukunft dokumentieren, die auf unterschiedliche Weise Transzendenz erfahren. In (pseudo-)wissenschaftlicher Manier werden drei vermeintlich zukünftige Lebenswelten erzählt, deren jeweilige Schauplätze jedoch an vergangene Zeiten erinnern.
Jenseits künstlerischer Diskurse, sind die philosophische Bewegung des spekulativen Realismus (vgl. Quentin Meillassoux 2008) oder die neue linke Politik des Akzelerationismus (vgl. Nick Srnicek, Alex Williams 2016) aktuelle Beispiele dafür, wie der Mensch als Instanz von (Zeit-)Wissen in Frage gestellt wird. Unter den Bedingungen des digitalen Informationszeitalters, in dem Google uns und unsere Wünsche immer besser zu kennen scheint als wir uns selbst, KI-Algorithmen lernfähig sind und Quantentechnologien einen Punkt erreicht haben, an dem ein Quantensimulator tatsächlich alle möglichen Zukunftstrajektorien gleichzeitig durchspielen kann (vgl. Farzad Ghafari et al. 2019), wird die Vorstellung von der Zukunft als einem vom Menschen gestaltbaren Möglichkeitsraum in Frage gestellt.
Diese vielseitige Beschäftigung mit Zeitlichkeit kann als eine diskursive Formation beschrieben werden, deren Ursachen und Implikationen auf kybernetische Debatten der 1940er und 1950er Jahre zurückgehen. Für den informationstheoretischen Ansatz der Kybernetik war die Dimension der Zeit essentiell, um einerseits menschliches und maschinelles Verhalten in Form von Input und Output zu beschreiben und zu operationalisieren (vgl. Henning Schmidgen 2004) und andererseits lineare Zeitstrukturen neu zu denken, um zukünftige Verhaltensmuster von Mensch und Maschine zu optimieren. Max Bense unterstellte den „kybernetischen Maschinen“ 1951 dabei ein besonderes Zeitverhältnis, da sie Additionen oder Subtraktionen in „fünfmillionstel Sekunde“ vornehmen können: „[S]ie arbeite[n] in den Feinstrukturen, in den Mikroverläufen der Zeit, die durch menschliches Handeln oder Denken nicht ausgenützt werden können. Desgleichen reicht unsere Vorstellungskraft nicht aus, Vorgänge in solche infinitesimalen Zeitbezirke zusammengerückt zu denken.“ (Max Bense, Metatechnik einer Maschine, S. 212f.)
Die Schriften von Norbert Wiener hatten schon damals einen großen Einfluss auf Künstler:innen, die sich von dem neuen Ansatz der Kybernetik in der Informationstechnologie und der damit einhergehenden zukunftsorientierten und technologiebasierten Neubewertung von Zeitlichkeit inspirieren ließen (vgl. Pamela M. Lee 2002). Angesichts der grundlegenden technologischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte ist der Prozess der Digitalisierung und Technisierung heute an einem Punkt angelangt, an dem eine gestaltbare Zukunft, so könnte man thesenartig formulieren, durch eine gegenwärtige Zukunft abgelöst wird.
Vor dem Hintergrund der Diskursivierung beschleunigter Kommunikationsprozesse seit den Gründungsjahren der Kybernetik Mitte des 20. Jahrhunderts und deren entscheidend transformierenden Auswirkungen auf lineare Zeitvorstellungen bis heute möchte der Workshop aus literaturwissenschaftlicher, medienwissenschaftlicher, kunsthistorischer und literarischer Perspektive das besondere Verhältnis von Zeit und Kybernetik näher in den Blick nehmen und gemeinsam diskutieren.
Für Impulsvorträge mit viel Raum für Diskussionen im Anschluss konnte das Fachgebiet Literaturwissenschaft der TU Berlin die Kunsthistorikerin Sabeth Buchmann (Akademie der bildenden Künste Wien), den Medienwissenschaftler Bernhard Dotzler (Universität Regensburg), den Theater- und Literaturwissenschaftler Kai van Eikels (Ruhr-Universität Bochum) und den Schriftsteller Alban Nikolai Herbst gewinnen.
Programm
Freitag, 13.10.2023
Raum H 3002, Hauptgebäude TU Berlin, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin
1. Impulsvortrag Bernhard Dotzler (15 Minuten) + Diskussion: 15.30 Uhr – 16.45 Uhr
2. Impulsvortrag Sabeth Buchmann (15 Minuten) + Diskussion: 17.00 Uhr – 18.15 Uhr
Samstag, 14.10.23
Raum H 3002, Hauptgebäude TU Berlin, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin
3. Impulsvortrag Alban Nikolai Herbst (15 Minuten) + Diskussion: 10.00 Uhr – 11.15 Uhr
4. Impulsvortrag Kai van Eikels (15 Minuten) + Diskussion: 11.30 Uhr – 12.45 Uhr
Um Anmeldung bei Giulia Fammartino (fammartino@tu-berlin.de) wird gebeten.