»Sprachhandeln«. Reflexionen über die deutsche Sprache nach dem Holocaust
Ort: Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (DI), Goldschmidtstr. 28, 04103 Leipzig, Seminarraum
Kontakt: und Anmeldung (bis 14. Oktober 2019): Nicolas Berg/Elisabeth Gallas (DI) +49 341 21735-50 antwort@dubnow.de
ZfL-Projekt(e):Frühe Schreibweisen der Shoah
Internationaler Workshop in Kooperation von Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow (DI) und Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) im Rahmen des DFG/ANR- Kooperationsprojekts »Frühe Schreibweisen der Shoah. Wissens- und Textpraktiken von jüdischen Überlebenden in Europa 1942–1965«
Konzept: Nicolas Berg (DI), Elisabeth Gallas (DI), Aurélia Kalisky (ZfL)
Die These, dass die deutsche Sprache nicht unschuldig an den NS-Verbrechen gewesen sei, hat niemand so dezidiert formuliert wie George Steiner in seinem Text The Hollow Miracle (1959; dt. Das hohle Wunder, 1960). Dort heißt es, dass die Nazis im Deutschen »genau vorfanden, was sie für ihre Untaten benötigten«: eine »Flut von präzisen, brauchbaren Worten«. Die Kontamination der deutschen Sprache mit dem nationalsozialistischen Jargon und deren anhaltende Wirkung verstand Steiner dabei nicht nur als linguistisches, sondern als erkenntnistheoretisches Thema. Sein Essay steht zudem in einer Tradition ähnlicher Interventionen, die bis in die 1930er Jahre zurückreicht. Viele deutschsprachige Juden erkannten schon früh, dass die neue Sprachwirklichkeit die gewandelte politische Realität nicht nur abbildete, sondern dieser vorausging.
Nach 1945 ist dann auch der Fokus auf Sprache und ihre Gewaltfunktion in auffallend vielen Zeitdiagnosen anzutreffen, etwa in den Arbeiten von Victor Klemperer, Nachman Blumental, H. G. Adler, Joseph Wulf oder
Peter Weiss. Gleich mehrere sprachkritisch angelegte Projekte wurden begonnen, um die Funktionalisierung der deutschen Sprache durch die Nazis zu untersuchen. Es entstand ein ganzes Korpus von Studien und Wörterbüchern, in dem sich ein regelrechtes Genre historischer Analyse konstituierte. Sprache wurde hier als Tat, als Sprachhandlung verstanden und ihr vorgreifender Einfluss auf die Praxis von Diktatur, Vertreibung und Vernichtung untersucht. Zugleich war und blieb das grundsätzliche Nachdenken über Sprache auch jener Ort, an dem neue Begrifflichkeiten für die Erfahrung von Juden unter deutscher Herrschaft erprobt wurden, die mit dem herkömmlichen Vokabular nicht mehr adäquat zu bezeichnen waren.
Der Workshop stellt diese verschiedenen Reflexionen jüdischer Gelehrter über die deutsche Sprache im Angesicht der Katastrophe ins Zentrum. Sprachkritik soll hier auf ihren zeitdiagnostischen Kern hin diskutiert und ihr Potenzial für das historische Nachdenken über den Holocaust analysiert werden.
Programm
Montag, 21.10.2019
13.30
Ankunft und Anmeldung
14.00
- Jörg Deventer: Begrüßung
- Nicolas Berg/Elisabeth Gallas/Aurélia Kalisky: Einführung
14.30 Literarische Reflexionen zur Sprache
Chair: Nicolas Berg
- Stephan Braese: »Sprachlos ist das Schicksal der Dichter«. Fünf Antworten auf George Steiner
- Mona Körte: »Meine Sprache ist eine, die zu Fremdwörtern neigt«. Zur Ökonomie von Reden und Schweigen in Ilse Aichingers Kurzprosa
17.00 Öffentlicher Abendvortrag
Einführung: Aurélia Kalisky
- Jeremy Adler: Zur Philologie des Bösen. Sprachkritik als Widerstand
Ort: Literaturhaus Leipzig, Gerichtsweg 28, 04103 Leipzig
Dienstag, 22.10.2019
09.30 Vokabularien der Gewalt
Chair: Annette Wolf
- Arvi Sepp: Sprachgewalt: Victor Klemperers Reflexionen zum verletzenden Sprechen im Nationalsozialismus
- Katrin Stoll: Der Doppelcharakter »unschuldiger Worte«. Nachman Blumentals Wörterbuchprojekt der NS-Sprache
11.30 Sprachsoziologie und Sprachphilosophie
Chair: Magnus Klaue
- Lynn L. Wolff: Continuity in Spite of the Catastrophe. H.G. Adler’s Relationship to and Reflections on the German Language
- Hans-Joachim Hahn: Rausch, Rancune und »ambitiöse Transzendenz«. Adornos Reflexionen beschädigter Sprache
14.30 Das Deutsche im Spiegel der Sprachen
Chair: Elisabeth Gallas
- Jenny Willner: Die Sprache des Autoritarismus. Kritische Perspektiven von Sándor Ferenczi bis George-Arthur Goldschmidt
- Arndt Kremer: Brisante Sprache. Deutsch in Palästina und Israel
16.00 Abschlussdiskussion