»Mich zu verlieren / Bin ich da!« Über Selbstverlust und Welterfahrung in der Moderne
Interdisziplinäre Tagung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, 9.–11. Mai 2019
In der Moderne werden die Vorstellungen selbstbestimmter Subjektivität, die seit der Neuzeit das europäische Selbstbewusstsein prägen, zunehmend in Zweifel gezogen. In letzter Zeit ging diese kritische Reflexion besonders von den Praxistheorien und der Subjektivierungsforschung aus, welche den unabgeschlossenen Vollzug der Subjektwerdung in den Fokus rücken. Dabei geraten allerdings bestimmte Phänomene aus dem Blick, nämlich Phänomene radikaler Fremdbestimmung oder Unbestimmtheit des Selbst.
Erfahrungen von Ohnmacht und Selbstauflösung gehören seit jeher zum Forschungsbereich der Ethnologie und der Literaturwissenschaften, die im Gegensatz zu den praxisorientierten Ansätzen gerade das subjektive Erleben in all seinen differenzierten, paradoxen und heteronomen Manifestationen in den Vordergrund rücken. Von diesen beiden Fachperspektiven angeregt, widmet sich die Tagung den vor allem soziologisch bislang unterbelichteten Phänomenen der Passivität und des Selbstverlusts. Damit wird das Augenmerk auf die Korrelation von Selbst und Welt gelenkt: Selbst- und Weltwahrnehmung sowie Selbst- und Weltkonstitution sind in ihrer intrikaten Verschränkung zu betrachten. Selbstverlust scheint dann mit einem Weltverlust einherzugehen.
Trance-Riten, Besessenheitserfahrungen, Schizophrenie, auch ekstatische und sakrale Erfahrungen bilden den Phänomenbereich des Selbstverlusts, dem die Tagung durch intensiven Dialog zwischen Praxis- und Passivitätsforschung naherücken will. Es geht also um Erfahrungen und Bewusstseinszustände des Nicht-mehr-Ich-Seins, die gerade auch in Phasen politischer und gesellschaftlicher Destabilisierung vermehrt auftreten und deshalb heute von großem Interesse sind.
Die Veranstaltung richtet sich an Interessierte aus Literatur- und Kulturwissenschaft, Ethnologie, Soziologie, Philosophie, Medien- und Religionswissenschaft. Am Abend des 9. Mai wird Dr. habil. Peter Braun (Jena) im Rahmen der Tagung seine neue Monographie vorstellen: Es geht um Ilse Schneider-Lengyel (1903–1972), die Fotografin, Ethnologin und Dichterin, deren Werk nun durch die Nachlasserschließung zu entdecken ist. Die Buchpräsentation findet im Oldenburger Literaturhaus Wilhelm 13 statt und ist für Interessierte offen.
Organisation: Björn Bertrams (Oldenburg), Antonio Roselli (Magdeburg), Thomas Alkemeyer (Oldenburg)
Um Anmeldung wird gebeten bis 3. Mai 2019 an bjoern.bertrams@uol.de.
Weitere Informationen unter: http://uol.de/selbstverlust/
PROGRAMM
Donnerstag, 9. Mai 2019
9:30
Björn Bertrams (Oldenburg), Antonio Roselli (Magdeburg): Begrüßung und Einführung
Erste Sektion: Selbstverlust als anthropologische Grunderfahrung
10:10
Joachim Fischer (Dresden): Exzentrische Positionalität: vita passiva, vita activa, vita contemplativa
11:00
Martin Mettin (Oldenburg): Zur Dialektik von Rezeptivität und Spontaneität bei Ulrich Sonnemann
Zweite Sektion: Technik und Praxis des Selbstverlusts
13:30
Erhard Schüttpelz (Siegen): Trance und Selbstverlust. Einige theoretische Überlegungen
14:20
Volker Gottowik (Frankfurt a.M.): Sexuelle Transgression und Selbstverlust: Ethnologische Perspektiven
15:30
Mario Grizelj (München): „Man spricht mich.“ Die Überdeterminiertheit des Selbstverlusts bei den besessenen Nonnen von Loudun
Abendveranstaltung im Wilhelm 13 (Literaturhaus Oldenburg):
20:00
Buchpräsentation und Gespräch mit Peter Braun (Jena):
„Mich zu verlieren / Bin ich da!“ Über Selbstverlust und Welterfahrung im Werk von Ilse Schneider-Lengyel. Moderation: Jan Gerstner (Bremen)
Freitag, 10. Mai 2019
Dritte Sektion: Selbstverlust als Wissensform
10:00
Kathrin Busch (Berlin): Selbstverlust als Wissensform. Ästhetiken radikalisierter Sensibilität
10:50
Elisabeth Heyne (Dresden): Muschel sein. Experimentelle Dissoziation als Erkenntnismodus bei Roger Caillois
12:00
Rosemary Snelling (Bochum): (Titel folgt)
Vierte Sektion: Politik und Ethik des Selbstverlusts
14:30
Héla Hecker (Oldenburg): Amor mundi. Hannah Arendts Antwort auf Weltverlust
15:20
Sandra Janßen (Karlsruhe): „Selbstlosigkeit“ zwischen Mystik, Psychologie und Totalitarismus. Zu einer Denkfigur der 1930er und 1940er Jahre
16:30
Thomas Alkemeyer (Oldenburg): Selbst-Bildung durch Selbstverlust? Über Resonanz, (Ent‑)Subjektivierung und Macht in sozialen Relationen
Samstag, 11. Mai 2019
Fünfte Sektion: Transformationen des Selbstverlusts
9:30
Martin Treml (Berlin/Wien): Passio als Leid und Leidenschaft. Aby Warburgs Bilderatlas
10:20
Ulrich van Loyen (Siegen): The End / of all / Ending. De Martino und der Schamanismus
11:30
Rosa Eidelpes (Konstanz): Über Ethnologie und Selbst-Entfremdung
12:20
Abschlussdiskussion
Ort: Campus Haarentor, Hörsaalzentrum A14, Raum 1-111 (Senatssitzungssaal)