Literarischer Antisemitismus in Zentral- und Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert
Literarischer Antisemitismus in Zentral- und Ostmitteleuropa im 20. Jahrhundert
Internationaler Workshop am Lehrstuhl für Germanistik, Nederlandistik und Skandinavistik, Philosophische Fakultät der Comenius Universität in Bratislava, 10. Februar 2020, Gebäude der Philosophischen Fakultät, Gondova 2, 2. Stock, Raum 236
Das Wissen um die Ermordung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg prägte seit den 1960er Jahren nicht nur die Erinnerungskultur, sondern beeinflusste allmählich auch die Geistes- und Sozialwissenschaften. Die Antisemitismusforschung entwickelt sich seit ihren Anfängen als interdisziplinäres Forschungsfeld. Neben Historikern, Soziologen und Politikwissenschaftlern zählen dazu auch diejenigen Literaturwissenschaftler und -historiker, die sich mit den negativen Darstellungen (Stereotypen) von Juden und Judentum in der jeweiligen Nationalliteratur beschäftigen. Der literarische Antisemitismus wurde in den vergangen Jahrzehnten insbesondere im Rahmen der Germanistik untersucht, wobei die Schwerpunkte sowohl auf dem 19. als auch auf dem 20. Jahrhundert lagen.
Verglichen mit politischer Publizistik, Programmatik oder Propaganda zeichnet sich die Literatur dadurch aus, dass sie grundsätzlich mehrere Deutungen zulässt. Angesichts dessen fällt es nicht immer leicht zu entscheiden, ob und inwiefern ein Text antisemitische Tendenzen aufweist – ganz zu schweigen von antisemitischen Absichten des jeweiligen Autors. Die Forschung orientiert sich daher nach wie vor an einem Merkmalkatalog, den Martin Gubser für den Nachweis antisemitischer Tendenzen in literarischen Werken aufstellte: Neben stereotypisierten, negativ gezeichneten Figuren und einer sie diffamierenden Sprache handelt es sich um die Polarisierung von Juden und Nicht-Juden, verhöhnende Autorenkommentare und vor allem „eine mangelnde bzw. missverständliche Trennung zwischen dem Aufzeigen und dem Aufweisen von Antisemitismus, d. h. der Unterscheidung, ob ein Text die entsprechenden Stereotype aus- und damit bloßstellt, oder aber sie ihm selbst unterlaufen“. (Nike Thurn)
Im Einklang mit der neueren Forschung wird im Rahmen des geplanten Workshops nach Formen des literarischen Antisemitismus auch bei denjenigen SchriftstellerInnen gefragt, in deren Werk negative Stereotypisierung der Juden keineswegs zentral sind beziehungsweise alternative Deutungen zulassen. Während in Deutschland die Erforschung des literarischen Antisemitismus den literarischen Kanon (Autoren der „Pflichtlektüre“ wie Thomas Mann oder Martin Walser) nicht ausspart, ist die Situation etwa in der österreichischen Germanistik komplizierter. Hier werden antisemitische Tendenzen der „völkischen Literatur“ gleichgesetzt, die aufgrund ihres Schematismus vom literarischen Kanon getrennt wird. Diese Differenzen werden ebenso Thema des Workshops sein wie der literarische Antisemitismus in den benachbarten Literaturen Ostmitteleuropas des 19. und 20. Jahrhunderts. Damit leistet der Workshop nicht zuletzt auch einen Beitrag zur interkulturellen Germanistik.
Programm:
9:30 – 9:40
Jozef Tancer (Comenius-Universität Bratislava): Begrüßung
9:40 – 9:50
Miloslav Szabó (Comenius-Universität Bratislava): Einführung
Erste Sektion: Österreich I
Moderation: Amália Kerekes (Eötvös-Loránd-Universität Budapest)
9:50 – 10:30
Roland Innerhofer (Universität Wien): Die Verneinung der Herkunft. Egon Friedells idealistischer Antisemitismus
10:30 – 11:10
Hendrik Cramer (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf): Zwischen den Welten. Antisemitismus, Judentum und katholisches Nationalbewusstsein im Prosawerk Franz Werfels
11:10 – 11:30
Kaffeepause
Zweite Sektion: Österreich II
Moderation: Roland Innerhofer (Universität Wien)
11:30 – 12:10
Stefan Winterstein(Österreichische Akademie der Wissenschaften): „Im untersten Grund der Schweinerei“: Doderers Anti- und Philosemitismus
12:10 – 12:50
Alexandra Preitschopf (Sv.-Kliment-Ohridski Universität Sofia): „In Österreich Jude zu sein / bedeutet immer / zum Tode verurteilt zu sein“. Judenbilder in Thomas Bernhards Heldenplatz
12:50 – 14:00
Mittagspause
Dritte Sektion: Ungarn, Slowakei, DDR
Moderation: Christoph Leitgeb (Österreichische Akademie der Wissenschaften)
14:00 – 14:40
Amália Kerekes (Eötvös-Loránd-Universität Budapest Budapest): „Bis zur Grenze des Tragbaren“. Der Antisemitismus als Kriterium im Feuilleton des Pester Lloyd (1933–1944)
14:40 – 15:20
Miloslav Szabó (Comenius-Universität Bratislava): Wer schmarotzt an wem? Zur Umcodierung eines zentralen antisemitischen Stereotyps in der Erzählung Der Bauer des slowakischen Schriftstellers František Švantner
15:20 – 15:40
Kaffeepause
15:40 – 16:20
Anja Thiele (Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft Jena): Antisemitismus in der Literatur der DDR: neue Perspektiven auf die „antifaschistische“ Literatur
16:20 – ?
Abschlussdiskussion