Poetik der Störung. Realitätsverhältnis experimentellen Schreibens: Ror Wolfs lange Prosa im Kontext der 1950er - 1980er Jahre
Der im Forschungskontext bislang wenig rezipierte Autor Ror Wolf wurde in Rezensionen aufgrund seiner experimentellen Verfahren oft als ‚Sprachspieler‘ rubriziert, er selbst hingegen nennt sich, wenn auch augenzwinkernd, einen ‚radikalen Realisten‘. Mit diesen Positionen ist grob das Spannungsfeld abgesteckt, das die vorliegende Arbeit auszuloten sucht: Im Zentrum der Analysen steht ein tradierte Erzählverfahren weit hinter sich lassendes Prosaschreiben, das aufgrund der Vielfalt und Omnipräsenz der verfolgten Störstrategien als ‚Poetik der Störung‘ konturiert wird. Mit dieser Poetik rückt auch der spezifische ‚Realismus‘ der wolfschen Prosa in den Blick. Die langen Prosaarbeiten modellieren, so die Leitthese, ihren Zugriff auf Wirklichkeit gerade durch Praktiken des Störens, welche unter anderem die Störung der Darstellungsfunktion der Sprache, des flüssigen Fortgangs der Prosa oder der Idee des Textes als ‚Ganzem‘ umfassen. Fernab realistischer Verfahrensweisen reicht Wolfs Wirklichkeitszugriff von Formen der Offenlegung der eigenen (medialen) Realität als literarischer Text über die Reflexion von Möglichkeiten der Repräsentation und des Wirklichkeitsverhältnisses des modernen Subjekts hin zu kritischen referenziellen Bezugnahmen auf gesellschaftliche Realität. In Wolfs Poetik artikuliert sich einerseits ein Begehren nach der Sichtbarmachung eines sprachlich nicht-repräsentierbaren Realen; zugleich wird dieses Begehren als utopisches Streben markiert, das – wenn überhaupt – nur in der Lektüre zur Realisierung finden kann. Anhand von vergleichenden Bezugnahmen auf Prosaarbeiten und poetologische Reflexionen zeitgenössischer Autor·innen wird kenntlich, dass sich Ror Wolf, der zeitlebens eine Randposition im Literaturbetrieb innehatte, im Schnittpunkt verschiedenster literarischer und gesellschaftlicher Suchbewegungen seiner Zeit befindet. Wolfs experimentelle und engagierte Poetik der Störung ist hierbei insbesondere im Kontext der 1960er Jahre zu lesen, in denen sie sich herausbildet: Sie speist sich aus literarischen Strömungen der 1950er und frühen 1960er Jahre, atmet den provokativen Aufbruchsgeist von ‚1968‘ und bereitet Entwicklungen vor, die erst im weiteren historischen Verlauf zu voller Blüte gelangen.