Dissertation
Author: Barbara Bausch

Poetik der Störung. Realitätsverhältnis experimentellen Schreibens: Ror Wolfs lange Prosa im Kontext der 1950er - 1980er Jahre

Der im Forschungskontext bislang wenig rezipierte Autor Ror Wolf wurde in Rezensionen auf­grund seiner experimentellen Verfahren oft als ‚Sprachspieler‘ rubriziert, er selbst hingegen nennt sich, wenn auch augenzwinkernd, einen ‚radikalen Realisten‘. Mit diesen Positionen ist grob das Span­nungs­feld abgesteckt, das die vorliegende Arbeit auszuloten sucht: Im Zentrum der Analysen steht ein tradierte Erzählverfahren weit hinter sich lassendes Prosaschreiben, das aufgrund der Viel­falt und Omnipräsenz der verfolgten Störstrategien als ‚Poetik der Stö­rung‘ konturiert wird. Mit dieser Poetik rückt auch der spezifische ‚Realismus‘ der wolfschen Prosa in den Blick. Die lan­gen Prosaarbeiten modellieren, so die Leitthese, ihren Zugriff auf Wirklichkeit gerade durch Prak­tiken des Störens, welche unter anderem die Störung der Darstellungsfunktion der Sprache, des flüssigen Fortgangs der Prosa oder der Idee des Textes als ‚Ganzem‘ umfassen. Fernab realis­ti­scher Verfah­rensweisen reicht Wolfs Wirklichkeitszugriff von Formen der Offen­le­gung der eige­nen (medialen) Realität als litera­rischer Text über die Reflexion von Möglichkeiten der Reprä­senta­tion und des Wirk­lich­keitsverhältnisses des modernen Subjekts hin zu kriti­schen refe­ren­ziellen Bezug­­nah­men auf gesellschaftliche Realität. In Wolfs Poetik artikuliert sich einerseits ein Be­geh­ren nach der Sichtbarmachung eines sprachlich nicht-repräsentierbaren Realen; zugleich wird die­ses Begehren als utopisches Streben mar­kiert, das – wenn über­haupt – nur in der Lek­türe zur Realisie­rung finden kann. Anhand von ver­gleichenden Bezugnahmen auf Prosaarbeiten und poetologische Reflexionen zeitgenössischer Autor·innen wird kenntlich, dass sich Ror Wolf, der zeitlebens eine Randposition im Literaturbetrieb innehatte, im Schnittpunkt ver­schie­den­ster litera­rischer und ge­sell­schaftlicher Suchbewegungen seiner Zeit befindet. Wolfs experimentelle und engagierte Poetik der Störung ist hierbei insbesondere im Kontext der 1960er Jahre zu lesen, in denen sie sich heraus­bildet: Sie speist sich aus literarischen Strömungen der 1950er und frühen 1960er Jahre, atmet den provo­ka­tiven Aufbruchsgeist von ‚1968‘ und be­reitet Entwicklungen vor, die erst im weiteren his­to­ri­­schen Verlauf zu voller Blüte gelangen. 

Institutions

FU Berlin
Neuere Deutsche Literatur
Friedrich Schlegel Graduiertenschule

Fields of research

Literature from Germany, Austria, Switzerland, Prose, Literature of the 20th century
Gegenwartsliteratur Europäische Avantgardebewegungen
Submitted by: Barbara Bausch
Date of publication: 07.04.2022
Last edited: 07.04.2022