Zeitnutzung, Zeitverschwendung, Zeitwahrnehmung in der KJL und didaktische Perspektiven
In kinder- und jugendliterarischen Texten sind die Ausgestaltung und die Nutzung der Lebenszeit in unterschiedlichen Ausgestaltungen Thema und Motiv:
In der neuen Jugendbuchserie „Ocean City“ von A.T. Acron wird beispielsweise eine Welt entworfen, in der die Kaufkraft von Individuen in der Währung Zeit gemessen wird. Die Menschen verfügen über Zeitkonten und Decoder, die sie am Handgelenk tragen. Beim Einkaufen wird der Warenwert direkt von den Zeitkonten abgezogen. In diesem System werden Menschen von vornherein darauf gedrillt, sich auf eine effiziente Zeitausnutzung zu kaprizieren.
Andere kinder- und jugendliterarische Texte greifen das Motiv der Zeitnutzung ebenfalls auf. Beispielsweise gestaltet Brian Katchers „Ana und Zak“ die Problemstellung der Protagonistin, die ihren Eltern zuliebe danach strebt, ihre Zeit effizient zu nutzen und somit ihre Zukunftsaussichten zu optimieren. Diese Selbstoptimierung entspricht aber nicht den eigentlichen Handlungswünschen der Protagonistin. Die Zeitnutzung wird hier zu einer Konfrontation der eigentlich noch unbeschwerten Welt der Jugendlichen, die auch das Bedürfnis und die Möglichkeit haben, in den Tag hineinzuleben und der Welt der Erwachsenen, die bei ihren Handlungen bereits an die Zukunft denken.
In Jenny Offills „Lucky!“ wird ausgerechnet ein Faultier zum Haustier eines Mädchens, da es wenig zeitintensive Pflege beansprucht. Das Bilderbuch zeigt, wie dieses allmählich zur Projektionsfläche für den Wunsch des Mädchens wird, sich der Disziplinierung durch ihre Mutter entziehen zu können. In der Sicht des Mädchens auf das Faultier schlägt sich ihre Sehnsucht nach einer Zeitnutzung nieder, in der die Zeit selbst keine Rolle spielt.
Übernimmt Katchers Buch die Perspektive der Gouvernementalitätsstudien, indem es die Zeitnutzung als Resultat neoliberaler Entwicklungen der Gesellschaft zeigt, nimmt „Ocean City“ eher eine technikdeterministische Perspektive ein und stellt die neuen digitalen Selbstaufmerksamkeitstechniken als verantwortlich für diesen Umgang mit der Zeit dar. „Lucky!“ stellt sich insofern als interessant dar, weil es ein Mädchen zeigt, dass sich nach zeitlichem Freiraum sehnt und dabei vom Text positiv bewertet und nicht als Faulheit stigmatisiert wird. Eine weibliche Figur, die sich dem Zeitökonomisierungsdruck entziehen darf, ist in der Literaturgeschichte keine Selbstverständlichkeit. Werden männliche Zeitverschwender in der Literaturgeschichte eher positiv dargestellt, gilt dies meist nicht für weibliche Müßiggängerinnen und Bummelantinnen.
Im geplanten Sammelband geht es darum, derartigen in literarischen Texten der KJL anzutreffenden Figuren, Reflexionen oder Lebensmodellen nachzuspüren. Im Mittelpunkt stehen also Figuren, die sich der möglichst effizienten Zeitnutzung widmen und solchen, die zu Zeitverschwendung tendieren. Dabei steht auch immer die Frage im Mittelpunkt, wie die verschiedenen Geschlechter mit der Zeit umgehen. Welche Perspektive nimmt der Text auf die jeweilige Zeitnutzung ein, und wie wird diese ästhetisch in Szene gesetzt? Es ist also von besonderem Interesse, die implizite Anthropologie der Texte diesbezüglich zu fokussieren und dies auch in den zeithistorischen Kontext einzuordnen.
Wir erhoffen uns Vorschläge für drei Arten von Beiträgen, was zugleich die geplante Struktur des Bandes widerspiegelt:
- Literaturwissenschaftliche Beobachtungen zu Zeitnutzung, Zeitwahrnehmung und Zeitverschwendung in der Kinder- und Jugendliteratur in dia- wie auch in synchroner Perspektive (von ca. 1980 bis in die Gegenwartsliteratur, wobei es auch denkbar ist, literaturhistorische Seitenblicke auf Texte vor 1980 in den Blick zu nehmen)
- Literaturdidaktische Beiträge, bei denen auf eine Analyse der Texte eine Ableitung von Potenzialen für den Erwerb literarischer Kompetenz erfolgt
- Konkrete Unterrichtsvorschläge (von der Primar- bis zur Oberstufe)
Wir sind sowohl offen für Beiträge, die ein größeres Text- oder Medienkorpus umfassen als auch für solche, in denen ein einzelner Text (im erweiterten Sinne) in den Blick genommen wird.
Beitragsvorschläge (max. 1.500 Zeichen) bis zum 1.5.2020 an die Herausgeber Johanna Tönsing (johanna.toensing@uni-paderborn.de) und Dr. Sebastian Bernhardt (sebastian.bernhardt@ph-gmuend.de). Über die Annahme der Beiträge werden Sie bis 15.5.2020 unterrichtet. Die zu erstellenden Beiträge sollen ca. 30.000 – 50.000 Zeichen umfassen und bis zum 31.12.2020 vorliegen.