CfP/CfA events

Zeitgenoss*innenschaften. Formen von Gegenwartsteilnahme

Beginning
10.07.2025
End
11.07.2025
Abstract submission deadline
31.10.2024

Die Tagung soll aus unterschiedlichen Disziplinen, anhand verschiedener Medien und Gattungen und mit Blick auf unterschiedliche historische und kulturelle Kontexte konzeptionelle Zugänge zu „Zeitgenoss*innenschaften“ vorstellen, vorschlagen und entwickeln. So soll eine Reflexion über Formen, Methoden, Chancen und Aporien von Gegenwartsteilnahme möglich werden. Wir fragen nach Formen und Praktiken, über die das Bewusstsein, gemeinsam mit anderen einer spezifischen Zeit anzugehören, Gestalt annimmt. 

Wir gehen davon aus, dass Zeitgenoss*innenschaft mehr als eine kalendarische Gegebenheit ist. Wir nehmen an, dass Zeitgenoss*innenschaft aktive Teilnahme, intendierte Interaktion mit einem Gegenwärtigen, dialogisches Handeln oder projektive Kritik ist. In diesem Sinne wird Zeitgenoss*innenschaft als solche reflektiert und thematisiert. Zeitgenoss*innenschaft kann in unterschiedlichen sozialen Konstellationen (Kollektive, Interessensverbände, Institutionen,…) Gestalt annehmen. Zeitgenoss*innenschaft wäre so als ein Phänomen zu begreifen, das in der analytischen Zusammenschau zwischen Konzeptionen (Haltung, Distanz, Intention) und Artikulationsformen (historisch indiziert, medial bedingt) fassbar wird: Intellektuelles oder soziales Engagement, Zeitgeschichte, Periodika, Zeitdiagnostik in den Künsten, …

Für die Beschäftigung mit dem Phänomen unterscheiden wir 4 Bereiche:
 

 1. Zeitgenoss*innenschaft und die Fragen der Zeit: intellektuelles Engagement und dessen Verhältnis zur Gegenwart

 Voraussetzung für Zeitgenoss*innenschaft ist der Wille, die „Unstimmigkeit der Zeit auf den Punkt zu bringen“ (Bude 2024). Zeitgenoss*innen können sich nicht wohlfühlen in ihrer Zeit (ibid), sind mit dem Imperativ einer „Nicht-Zugehörigkeit“ (Badiou, 2006, 33) konfrontiert: „Nicht-Zugehörigkeit“ bedeutet die Forderung maximaler Distanz, nicht vollkommen aufzugehen in der Gegenwart, sich nicht „ihren Erfordernissen anzupassen“ (Agamben, 2010, 22). Am anderen Ende des Spektrums sind Formen enthusiastischer oder affirmativer Zeitgenoss*innenschaft anzusiedeln. Soziologisch kann zwischen aktiver und passiver Zeitgenoss*innenschaft (Teilnahme vs. Teilhabe, „Mitsein vs. Dabeisein“, Bude 2024) unterschieden werden. In diesen Bereich fallen insbesondere Formen und Konzepte von ‚Konfliktpflege‘: Dissens, Streitkultur, Versöhnung, Agonistik.
 

2. Zeitgenoss*innenschaft als hervorbringende Aktivität: Poetik von Zeitgenoss*innenschaft

 Zeitgenoss*innenschaft ist immer erst zu schaffen, zu deuten, zu formen und anzueignen, Zeitgenoss*innenschaft fordert die Anwendung einer „plastischen Kraft“ (Nietzsche, Nutzen, 11). Zeitgenoss*innenschaft setzt so Zäsuren, schafft „besondere Beziehungen zwischen den Zeiten“ (Agamben, 2010, 34). Insofern evident ist, dass der Zeitgenoss*innenschaft ein Bewusstsein für Geschichtlichkeit systematisch inhärent ist, bestimmt sie sich stets in Abgrenzung zu einem ‘Nicht mehr’ und ‘Noch nicht’. Als Aktivität, als Handlung, ist Zeitgenossenschaft immer ein Projektives, ein Entwerfendes, ein den Horizont des Bekannten Überschreitendes. Das Spektrum reicht hier von „poetischer Zeitgenossenschaft“ (Zanetti 2019), über Michail Bachtins Begriff der „Kontaktzone“ („zona kontakta“) des Romans zur Wirklichkeit seiner historischen Gegenwart (Bachtin 2012: 616) bis zur Frage nach einer Zeitdiagnostik in den Künsten.
 

3. Zeitgenoss*innenschaft und Zeitgenössisches: Wie Phänomene der Gegenwart zeitgenössisch werden

 Zeitgenoss*innenschaft als Aktivität zu fassen, bedeutet zunächst eine Abgrenzung von synonymen Verwendungsweisen des Begriffs, oftmals als Adjektiv, im Sinne von ‘aktuell’, ‚modern‘ oder ‘gegenwärtig’ (vgl. auch engl. ‘contemporary’, frz. ‘contemporain(e)’, russ. ‘sovremennyj’, usw.). Methodische und theoretische Fragen und Legitimationen, die sich aus einer Auseinandersetzung mit dem Zeitgleichen etwa in Form von Gegenwartskunst oder zeitgenössischer Literatur ergeben, (vgl. Brokoff 2016, Egger 2021, Hammarfelt et al. 2018, Krieger 2008), können analytisch betrachtet werden: Wie die Behauptung von, ein ‚claim‘ auf Zeitgenoss*innenschaft Verbindungen herstellt, aktualisiert, Kanones hinterfragt, Phänomene diskursiv öffnet. Dabei werden Narrative von Kontinuität, Verwandtschaft und Genealogie deautomatisiert und aufgelöst (Healey 2018, Lindhoff 1995: 30ff., Lipovetsky et al.2021).
 

4. Zeitgenoss*innenschaft als Erfahrungsraum

Das deutschsprachige Wort ‘Zeitgenossenschaft’, verstanden als soziale, kommunikative oder strategische Aktivität, markiert Bezugnahmen, die durch Auswahl und Entscheidung entstehen und dabei “Populationen ungleichartiger und vielfältiger Möglichkeiten” herstellen, die im Verhältnis zueinander so lange gleichzeitig sind, bis andere Entscheidungen dies revidieren (Stichweh 2016, 76–77). Heinz Bude sieht ein Wesen von Zeitgenoss*innenschaft darin, dass sie eine „als überwindbar gewusste Inkongruenz zwischen Weltzeit und Lebenszeit bewusst und erträglich macht“ (Bude 2024). Zeitgenoss*innenschaft verbindet so einen Erfahrungsraum mit einem Erwartungshorizont. 

In unserer Zeit, im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts, angesichts der aktuellen Kriege und Konflikte, politisch brisanter Konstellationen wie Populismen oder Erosionen des Demokratischen, ist Zeitgenoss*innenschaft ein prekärer Ausgangszustand, der auf einer „Verbannung in die Gegenwart“ (Stepanova, 2023, 104) beruht. Im Zeitalter prekärer Zeitgenoss*innenschaften wird die Notwendigkeit und Unumgänglichkeit erfahrbar, sich aktiv zu einem Jetzt, einem Heute zu verhalten.


Beiträge sollen sich den genannten vier Bereich zuordnen, wobei die Beiträger*innen eingeladen sind, das Konzept mit Beispielen aus ihren Disziplinen weiterzuentwickeln, in Frage zu stellen.

Die Tagung findet an der Universität Potsdam, Campus Neues Palais, statt.

Reise- und Übernachtungskosten können im üblichen Rahmen übernommen werden.

Bitte senden Sie bei Interesse ein Vortragsabstract von einer halben bis einer DIN A4-Seite, einen kurzen CV sowie 3-4 einschlägige Titel aus Publikationen, Vorträgen oder Lehrveranstaltungen bis 31.Oktober an Prof. Dr. Fabian Lampart (fabian.lampart@uni-potsdam.de)

 

Literatur:

Agamben, Giorgio: „Was ist Zeitgenossenschaft?“ [orig. 2006], in: Ders.: Nacktheiten. Frankfurt/M. 2010, S. 21-35.

Iwan-Michelangelo D’Aprile: Die Erfindung der Zeitgeschichte. Geschichtsschreibung und Journalismus zwischen Aufklärung und Vormärz. Berlin: 2013.

Bachtin, Michail M.: „Roman, kak literaturnyj žanr” [Der Roman als literarisches Genres, Vortrag 1941, Erstpublikation 1970], in: Ders.: Polnoe Sobranie Sočinenij. Tom 3. Moskau 2012, S. 608-643.

Badiou, Alain: Das Jahrhundert [orig. 2005]. Zürich / Berlin 2006.

Brodowsky, Paul: Wie über die Gegenwart sprechen? Überlegungen zu den Methoden einer Gegenwartsliteraturwissenschaft. Frankfurt/M., Berlin, Bern u.a. 2010.

Brokoff, Jürgen / Geitner, Ursula / Stüssel, Kerstin (Hgg.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur. Göttingen 2016.

Bude, Heinz: „Zeitgenossenschaft: Für welche Zeit und mit welchem Genoss*innen?“, Vortrag am IFK Wien, https://ifk.ac.at/medien-detail/heinz-bude-zeitgenossenschaft-für-welche-zeit-und-mit-welchengenossinnen.html (10.Juli 2024)

Egger, Sabine / Rompf, Hanna Maria (Hg.): Zeitgenossenschaft / Contemporaneity. Konstanz 2021.

Gumbrecht, Hans-Ulrich: Unsere breite Gegenwart. [Our Broad Present] Berlin: Suhrkamp 2010.

Hammarfelt, Linda Karlsson / Platen, Edgar / Platen, Petra (Hgg.): Erzählen von Zeitgenossenschaft: zur Darstellung von Zeitgeschichte in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. München 2018.

Healey, Dan: Russian Homophobia from Stalin to Sochi. London, Oxford, New York, New Dehli, Sydney 2018,

Krieger, Verena (Hg.): Kunstgeschichte & Gegenwartskunst: vom Nutzen & Nachteil der Zeitgenossenschaft. Köln, Weimar, Wien 2008.

Lindhoff, Lena: „Die brüchige Geschichte des (Sich-)Schreibens von Frauen“, in: Dies.: Einführung in die feministische Literaturtheorie. Stuttgart, Weimar 1995, S. 30-60.

Lipovetsky, Mark / Engström, Maria / Glanc, Tomáš, Kukuj, Ilja / Smola, Klavdia (Hgg.): The Oxford Handbook of Soviet Underground Culture. 2021. https://academic.oup.com/edited-volume/34707 (10.Juli 2024)

Nietzsche, Friedrich: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [Orig. 1874]. Stuttgart 2009.

Rosa, Hartmut: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 2016.

Stepanova, Maria: Winterpoem 20/21. Berlin 2023.

Sasse, Sylvia: Subversive Affirmation. Zürich 2024.

Stichweh, Rudolf: „‘Zeitgenössische Kunst‘. Eine Fallstudie zur Globalisierung“, in: Brokoff, Jürgen / Geitner, Ursula / Stüssel, Kerstin (Hgg.): Engagement. Konzepte von Gegenwart und Gegenwartsliteratur. Göttingen 2016, S. 75-84.

Thévenot, Laurent: „Die Person in ihrem vielfachen Engagiertsein“, in: Trivium. Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften 5/ 2010, http://journals.openedition.org/trivium/3573 (10.03.2022) Zanetti, Sandro: „Poetische Zeitgenossenschaft“, in: Variations 19 / 2011, S. 39-53.

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Fields of research

Digital Humanities, Literary historiography, Literary theory, Literature and sociology, Literature and cultural studies, Literature and philosophy, Literature and visual studies, Literature and media studies, Lyric poetry, Prose, Comic, Non-fictional literature, Drama, Digital literature
Die Tagung soll aus unterschiedlichen Disziplinen, anhand verschiedener Medien und Gattungen und mit Blick auf unterschiedliche historische und kulturelle Kontexte konzeptionelle Zugänge zu „Zeitgenoss*innenschaften“ vorstellen, vorschlagen und entwickeln. So soll eine Reflexion über Formen, Methoden, Chancen und Aporien von Gegenwartsteilnahme möglich werden. Wir fragen nach Formen und Praktiken, über die das Bewusstsein, gemeinsam mit anderen einer spezifischen Zeit anzugehören, Gestalt annimmt.

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Am Neuen Palais 10, Haus 5
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Submitted by: Fabian Lampart
Date of publication: 19.09.2024
Last edited: 19.09.2024