Workshop "Responsibilisierungsdiskurse der Vormoderne"
Responsibilisierungsdiskurse der Vormoderne
Interdisziplinärer Workshop an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (12./13.08.2021)
Das Axiom einer Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung bildet die Grundlage der mittelalterlich-christlichen Anthropologie. Aufgrund seiner Willensfreiheit, die ihn mit seinem Schöpfer, nach dessen Ebenbild er geschaffen wurde, vergleichbar macht, kann der Mensch jedoch einerseits für sein Handeln und mehr noch für seine Gesinnung in die Verantwortung genommen werden. Andererseits mahnt die Gottesähnlichkeit auch zum Streben nach dem summum bonum, von dessen Weg abzuweichen eine Sünde bedeutet. Verantwortlich ist der Mensch soteriologisch betrachtet zunächst primär für sich selbst bzw. sein eigenes Seelenheil, während die göttliche Schöpfungsordnung von menschlicher Einflussnahme notwendig unberührt bleibt.
Neben der Fokussierung auf das je individuelle Seelenheil lassen sich in der Vormoderne jedoch auch weitere Responsibilisierungsnarrative fassen, die eine Person, eine Gruppe oder den Menschen in die Verantwortung für sich, andere oder den Kosmos nehmen. Dabei ist unerlässlich, dass Verantwortung stets, zuweilen implizit, zugesprochen werden muss und sich nicht in bloßer Schuldigkeit erschöpft, sondern sich zumindest anteilig auch als meritorische Pflicht bestimmen lässt, mit deren Erfüllung man ein Verdienst erwirbt. Responsibel gemacht werden kann zudem nur ein frei entscheidender Akteur, der über die Möglichkeit zum Eingreifen und die Kenntnis der Umstände verfügt. Virulent bleibt zudem die Frage nach der Absehbarkeit von Konsequenzen und entlastender Unwissenheit, was im Mittelalter prominent in Abaelards Gesinnungsethik heftig zu Buche schlägt, die durch radikales Abblenden der konkreten Handlung bei der Schuldzumessung den Einfluss kontingenter Umstände zu negieren versucht.
Besonders heterogene Entwürfe zur Frage nach Verantwortlichkeiten werden in narrativen Entwürfen zur Anthropologie beobachtbar, die oftmals den Modus der Zuschreibung mitverhandeln und entsprechend auch situative oder konkurrierende Geltungen von Verantwortungszuschreibung sowie Momente der Entverantwortlichung reflektieren. Immer wieder stehen sich hier nicht nur textinterne Positionen entgegen, sondern es werden intertextuelle Gegenentwürfe aufgestellt, die bestehende Zuschreibungen erweitern, relativieren oder nivellieren können. Beispielhaft macht etwa die Frühmittelhochdeutsche Genesis den Menschen vor allem für das chinden, also die Reproduktion zur Wiederbesetzung des zehnten Chores verantwortlich, weist Natura im Architrenius ihre (besonders bei Alanus formulierte) moralische Verantwortung gegenüber dem Menschen zurück und responsibilisiert diesen stattdessen selbst oder tritt Georg in der Legende aus freiem Willen sein Martyrium an und stellt sich Dacian entgegen.
Neben religiösen Verantwortungsbereichen wird vor allem auch soziopolitisches Handeln an Verantwortungsübernahme geknüpft. So sieht sich etwa Hartmanns Iwein in der Pflicht, an Artus’ Stelle die Schmach seines Vetters Kalogreant zu tilgen, laborieren Figuren wie Hagen und Dietrich von Bern im Nibelungenlied an kollidierenden triuwe-Beziehungen und werden in der Melusine Thürings von Ringoltingen Fragen nach genealogischer Verantwortung aufgeworfen. Eine soziale Komponente weist ebenfalls die Verantwortung für exklusives Wissen auf, das beispielsweise nur (integumental) verschlüsselt weitergegeben werden darf. Aber auch topische Argumentationsmuster im Sinne von ‚Talent verpflichtet zur Nutzung‘, ‚Wissen zur Mitteilung‘ oder ‚Berichten zur Vollständigkeit‘ lassen sich als potenzielle Untersuchungsgegenstände anführen, bei denen immer wieder die in der Etymologie verbürgte Nähe zur Antwort bzw. zur Reaktion aufscheint.
Der Workshop fragt nach narrativen Mustern und Textstrategien der Responsibilisierung, also danach, wie etwa vormoderne Erzählungen, aber auch didaktische, chronikale oder (rechts-)praktische Texte die jeweils zugrundeliegenden Wert- und Normhorizonte verbindlich machen, Schuldigkeit und Zuständigkeit sowie ggf. Zurechnungsfähigkeit verhandeln und interferierende oder konkurrierende Verantwortungsnahmen als solche ausstellen. Insofern die skizzierten Bedingungen für Verantwortlichkeit immer auch Fragen nach Willensfreiheit und Determination, den Grenzen menschlicher Einflussnahme sowie seiner Erkenntnis- und Schuldfähigkeit aufwerfen, versteht sich der Workshop auch als Beitrag zu einer historischen Anthropologie.
Abstracts für halbstündige Vorträge oder moderierte gemeinsame Lektüren (max. 300 Wörter) sind bitte bis zum 16.05.2021 an wick@em.uni-frankfurt.de einzusenden. Der Workshop findet bestenfalls mit einer vertretbaren Gruppengröße und entsprechend den Hygieneregeln der Goethe-Universität in Präsenz statt. In diesem Fall können Fahrt- und Übernachtungskosten übernommen werden. Eine digitales Alternativformat kann derzeit jedoch nicht ausgeschlossen werden. Zudem besteht die Möglichkeit, in jedem Falle nur digital am ggf. hybriden Workshop teilzunehmen.
Kontakt:
Dr. des. Maximilian Wick (wick@em.uni-frankfurt.de)
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik
Norbert-Wollheim Platz 1
60323 Frankfurt am Main