Wahrnehmungskräfte – Kräfte wahrnehmen. Dynamiken der Sinne in Wissenschaft, Kunst und Literatur / Perceiving Forces. Dynamics of the Senses in Science, Art and Literature
Tagung der DFG Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft«, 9.-11. Juni 2022 (Hamburg)
Seit der antiken Philosophie wird Wahrnehmung (aisthesis) grundsätzlich als Kraft (dynamis) bestimmt. Das Nachdenken über die Funktionsweise der Wahrnehmungsvermögen steht nicht nur in der Spannung zwischen Wahrheitsfähigkeit oder Täuschungsanfälligkeit, zwischen passiver Impression und aktiver Imagination, sondern auch in dem für Kraftreflexionen insgesamt prägenden Problemverhältnis von verborgener Ursache und wahrnehmbarer Wirkung, Latenz und Manifestation.
In Aristoteles’ Beschreibung stehen die Wahrnehmungsvermögen insofern zwischen Passivität und Aktivität, als sie die in den Dingen enthaltene, auf die Wahrnehmung wirkende intelligible Formen (morphe) aktualisieren. Die spätmittelalterlichen Transformationen der aristotelischen Aisthesis stehen unter dem Einfluss der arabischen Sende- bzw. Empfangstheorien und beschreiben das Wahrnehmungsgeschehen zunehmend als Rezeption qualitativer Intensitäten. Der Trägerstoff der Aisthesis ist dabei der feinstoffliche Spiritus, durch den Veränderungen im Wahrnehmungsapparat bzw. den kognitiven Verarbeitungsinstanzen in Gang gesetzt werden. In den neuplatonisch geprägten Eroslehren der Renaissance wird Wahrnehmung als sympathetische Dynamik beschrieben, die zwischen Einklang und Überwältigung von Wahrnehmungsobjekt und -subjekt changiert; Paradigma ist die Wirkkraft ›magischer‹ Emissionen, aber auch die Kraft der Bilder und die Macht der Rede. Die topische Gleichsetzung von Weiblichkeit mit Sensibilität (im Sinn von passiver Einprägungsfähigkeit), aber auch mit aktiver aisthetischer Prägemacht begleitet diesen Diskurs kontinuierlich. Die physikalische und physiologische Optik löst sich von diesen Vorstellungen allmählich ab, bis hin zu Johannes Kepler, der Wahrnehmung als punktuelle Übertragung von Lichtimpulsen definiert, die jenseits der ›Wand‹ der Retina durch kognitive Verarbeitungen erst (wieder) zusammengesetzt werden müssen. An der Frage, inwiefern Wahrnehmung auf einer solchen (Re-)Konstruktionsleistung beruht oder vielmehr die (bildhaften) ›Ganzheiten‹ der Wirklichkeit unmittelbar wahrgenommen werden, entzündet sich die vor allem von der jesuitischen Optik des Barock befeuerte Debatte.
Neben dieser Auseinandersetzung um den aktiven und den passiven Anteil der Wahrnehmung sowie der Frage nach der Intensität der Aisthesis verläuft eine bis in die Antike zurückreichende Diskussion um die Hierarchie der Sinne, die ebenfalls über die Kategorie der Kraft verläuft. Dabei kommt dem Sehen zumeist eine Spitzenstellung zu, weil es die Kraft besitzt, Formen auch über größere Entfernungen adäquat zu erfassen. Im neuen Kunstdiskurs der Renaissance leiten sich davon Überlegungen zur Hierarchie der Künste ab. Zugleich entzündet sich über die Frage nach den jeweiligen Sinnesleistungen über viele Jahrhunderte eine vergleichende Psychologie, welche die tierischen Sinne gegenüberstellt und dabei – im Anschluss an Aristoteles – dem Menschen lediglich die größere Sensibilität des Tastsinns konzediert. Dies präformiert die spätere Karriere des tactus als Paradigma von Wahrnehmung überhaupt, während der Tastsinn selbst paradoxerweise aus den Rezeptionsweisen der Künste zunehmend herausfällt.
Im Nachdenken über die vires repraesentativa bildet man die Frage nach den Vermögen der Wahrnehmung und der Vorstellung seit dem 18. Jahrhundert auf den Newton’schen Kraftbegriff ab. Wahrnehmung soll, dies zeigt sich dann in der Physiologie und Psychologie des 19. Jahrhunderts, messbar und berechenbar werden. Mit der Suche nach abstrakten Einheiten, etwa den ›Sinnesenergien‹, fragt man allerdings nicht mehr nach Wahrnehmungsqualitäten, sondern nach quantitativen Beträgen. Im Streben nach maximaler Objektivität sollen nicht nur alte Fragen nach der Stör- und Täuschungsanfälligkeit des Wahrnehmungsvollzugs und dem Realitätsbezug des Wahrgenommenen beantwortet werden. Mit der Einbindung in experimentelle Anordnungen stehen Wahrnehmungstheorien auch im größeren Kontext einer Empirisierung eines metaphysischen Kraftbegriffs. Die Leibphänomenologie hingegen reaktiviert Dimensionen der genuin körperlichen Erfahrung, die auf einen nicht nur quantifizierten, mathematisch bestimmbaren Kraftbegriff der Physik führen, sondern Kraft als dynamis, als ein Vermögen lebendiger Wesen beschreibbar machen. Kontur gewinnt die Eigenart menschlicher Wahrnehmung aber nicht zuletzt durch ihre Einbettung in (evolutions-) biologische Fragen, die nach den Eigenarten und Entwicklungspotentialen menschlicher und nicht-menschlicher Wahrnehmung fragt.
Hier deuten sich die Fragen an, die unter dem Doppeltitel »Wahrnehmungskräfte – Kräfte wahrnehmen« gestellt und nicht nur an philosophischen oder naturwissenschaftlichen, sondern vor allem an künstlerischen Auseinandersetzungen mit den Vorgängen und Möglichkeiten der Wahrnehmung beantwortet werden sollen. Inwieweit wird sinnliche Wahrnehmung als bloßes Objekt wirkender Kräfte oder aber selbst als aktive oder aktivierende Kraft behandelt? In welchem Maße trifft die derart konzeptualisierte Wahrnehmung die Wirklichkeit? Und wie verhalten sich Konzeptualisierungen der Wahrnehmung als Sinneskräfte zur problematischen Wahrnehmbarkeit von Kräften? Von den sinnesphysiologischen und erkenntnistheoretischen Grundvorstellungen aus will die Tagung drei Arbeitsfelder erschließen. (1) Biologische Konzepte der Wahrnehmung menschlicher und nicht-menschlicher Tiere, (2) Ansätze zu einer Kultur- und Mediengeschichte der Sinne, (3) Die Künste und ihre impliziten und expliziten Theorien.
(1) In dem Versuch, das Verhältnis von Wahrnehmung und Bewusstsein zu bestimmen, berührt die Erklärung des Wahrnehmungsvorgangs die Frage nach der Stellung des Menschen in seiner naturalen Umwelt. Hatten die Vorsokratiker noch allen lebenden Organismen die Fähigkeit zur Wahrnehmung zugesprochen, so wird das Vermögen eines perzeptuellen Weltbezugs bei Aristoteles zum Distinktionsmerkmal, das Menschen und Tiere von den Pflanzen unterscheidet. Als dezidiert kritisches Vermögen, dem zudem eine reflexive Struktur innewohnt, stellt eine Distanzierung zum Wahrgenommenen die unabdingbare Voraussetzung zur Wahrnehmung dar. Anders als Tiere und Menschen scheinen Pflanzen den Einwirkungen der Materie unmittelbar ausgeliefert. Genau daran entzünden sich die frühneuzeitlichen Debatten um Formen der pflanzlichen Wahrnehmung (Paradigma: Sonnenblume), die als Gefahr wahrgenommen werden, die Stufungen der aristotelischen scala naturae durch die ebenfalls aristotelische Betonung natürlicher Kontinuitäten zu unterminieren. Hier wäre zu untersuchen, wie die Frage nach einer vermeintlich genuin menschlichen Wahrnehmung an spezifische Praktiken der Grenzziehung und -auflösung zwischen Menschen und Umwelten gekoppelt ist.
(2) Betrachtet man die Kultur- und Mediengeschichte der Perzeption, dann geht es nicht nur um Klassifikationsschemata innerhalb der Natur, sondern auch um Fragen der Hierarchie der einzelnen Sinne, um Sende- und Empfangstheorien, das Neben- oder Miteinander der ihnen je eigenen Wahrnehmungsgegenstände, deren (Weiter-)Verarbeitung und das Bestreben einer Verschiebung oder Überschreitung von Wahrnehmungsgrenzen. Inwiefern ist mit einem jeweiligen Eigensinn der Sinne zu rechnen, wie gestalten sich Modi ihrer Übersetzbarkeit oder des Zusammenwirkens? Und welche Rolle spielen dabei mediale und technische Augmentierungen? Neben der sinnlichen wären hier auch Inszenierungen ›übersinnlicher‹ Wahrnehmung (Epiphanie, Wunder, Mediumismus etc.) zu thematisieren. Zu rekonstruieren wären nicht zuletzt exemplarische Verläufe oder Richtungswechsel in der Geschichte, die als Schärfung und Verkümmerung, technische Erweiterungen und Zurichtungen, oder auch künstlerischen ›Sensibilisierung‹ (bzw. Sensibilität) und gesellschaftlich-sozial-zivilisatorischer ›Anästhesie‹ beschrieben wird.
(3) Von hier aus wäre schließlich nach dem Verhältnis menschlicher Wahrnehmungsvermögen zu Modi der Kunstproduktion und -rezeption zu fragen. Lassen sich künstlerische Darstellungsverfahren als Anpassungen an das Wissen von der menschlichen Perzeption lesbar machen? Und welchen Einfluss üben bild- und sprachkünstlerische Darstellungsmodi auf die Konzeptualisierung von Wahrnehmung überhaupt, aber auch auf Wahrnehmungskonventionen aus? Die Zuordnungen von Sinnesarten und Künsten und der daraus abgeleitete Wettstreit der Sinne prägt den Paragone von der Frühen Neuzeit bis ins 19. Jahrhundert. Nebenbei erhalten auf Wahrnehmungseinstellungen und Empfindungsqualitäten fokussierende Begriffe wie Rührung, Regung, Bewegung, Reiz, Irritation, Schock, Atmosphäre, Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit an Kontur. Die Rekonstruktion dieser und anderer aisthetischer Konzepte gibt Anlass, über das reflexive Moment einer in der Kraft der Wahrnehmung verankerten Ästhetik nachzudenken. Wird Kunst als Irritation und Störung eingefahrener Wahrnehmungswege, als Schule der Wahrnehmung, als aktivierte, gesteigerte und nicht zuletzt vielleicht auch als wahrgenommene Wahrnehmung konzipiert? Und wie steht es um die darin implizierten Möglichkeiten der Künste, Wahrnehmungspraktiken und -konventionen zu befragen oder zu verändern?
Beiträge für die Tagung können auf deutsch oder englisch eingereicht werden; es wird eine Publikation der Vorträge als Tagungsband in der Reihe »Imaginarien der Kraft« (De Gruyter) geplant.
Bitte senden Sie Ihre Beitragsvorschläge aus Kunst-, Literatur- und Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte, Kulturwissenschaften, Philosophie mit einem 1-2seitigen Exposé und dem Stichwort »Wahrnehmungskräfte« in der Betreffzeile bis zum 15.10.2021 an: imaginarien.der.kraft@uni-hamburg.de
Kontakt:
DFG-Kolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft«
Gorch-Fock-Wall 3, 1. Stock (links)
D-20354 Hamburg
imaginarien.der.kraft@uni-hamburg.de
www.imaginarien-der-kraft.uni-hamburg.de
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