Überlesene Pflanzen? Anthropozänkritische Überlegungen zur agentialen Wirkungsmacht pflanzlicher Lebewesen
„Plant-blindness essentially is our cultural inability to conceive plants beyond the prefixed cultural schemata. It is that which simultaneously reduces them to resources or aesthetic objects.“ (Aloi 2019, ‘Why look at plants?’, XX) Giovanni Aloi beschreibt in diesem einleitenden Zitat die bisherige Tendenz der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung, die intrinsische vegetative Kraft von Pflanzen zu übersehen. Bereits in der Akteur-Netzwerk-Theorie etwa Bruno Latours findet sich jedoch eine signifikante Akzentverschiebung hin zur Betonung einer Agentialität auch nicht-menschlicher Akteure, die sich auch in jüngeren Ansätzen der Multi-Species-Forschung etwa Anna Tsings (The Mushroom at the End of the World, 2015) oder Donna Haraways (Staying with the Trouble, 2016) manifestiert. In die deutschsprachige Literatur- und Kulturwissenschaft wurden die Plant Studies spätestens mit Urte Stobbes, Anke Kramers und Berbeli Wannings kulturwissenschaftlichen Handbuch Literaturen und Kulturen des Vegetabilen (2022), welches gegen die von Giovanni Aloi beschriebene plant-blindness angeht, als Themengebiet allumfänglich integriert. Auch Frederike Middelhoff und Arnika Peselmann unterstreichen in ihrer Einführung The Stories Plants Tell aus dem Jahr 2023 diese plant-blindness und betonen die bei Pflanzen vorzufindenden narrative Fähigkeiten als semiotische Transportfigurationen. Obgleich Pflanzen in der Wissenschaft Beachtung finden, konzentriere sich die kultur- und literaturwissenschaftliche Forschung bisher nur auf die über den Pflanzen liegende symbolische Ebene, wodurch sie lediglich aus anthropologischer Sicht ihre Wertigkeit erhalten (vgl. Middelhoff & Peselmann 2023, 175). Das Ziel der Plant Studies wäre demgegenüber allerdings ein anderes: „Nach unserem Verständnis ist das übergeordnete Ziel der literatur- und kulturwissenschaftlichen Pflanzenforschung, den Eigenwert der Pflanzen als Lebewesen im Netzwerk des Lebendigen sichtbar zu machen.“ (Stobbe et. al. 2022, 18) Eine kulturwissenschaftliche Pflanzenforschung beschäftigt sich daher mit „ethischen und philosophischen Fragen über den Status von Pflanzen“ (ebd., 15), „historischen wie gegenwärtigen Mensch-Pflanzen-Verhältnissen“ (ebd.) und „Praktiken der Interaktion zwischen Menschen und Pflanzen in Literatur, Kunst und Alltagskultur“ (ebd.). Die pflanzenzentrierte Forschung erkundet, „wie botanisches und […] nicht wissenschaftlich und institutionell anerkanntes Wissen über Pflanzen in literarischen und nicht literarischen Texten repräsentiert, modifiziert und reflektiert wird.“ (ebd.) Das zentrale Anliegen der Plant Studies sei deswegen die omnipräsente Frage nach dem „Akteurstatus von Pflanzen“ (ebd.). Die narrative Erzählfunktion von Pflanzen müsse ihnen im Zuge dessen vollumfänglich zugesprochen werden, um die anvisierte ‚Vegetal Narrative Culture‘ auf die Literatur- und Kulturwissenschaft ableiten zu können. Frederike Middelhoff und Arnika Peselmann konturieren in ihrer Einführung diese narrative Wirksamkeit von Pflanzen innerhalb der Literatur: Pflanzen, so die beiden Autorinnen, seien somit keine bloßen repräsentierende Signifikanten als ‚semiotische Platzhalter‘ (als z.B. Symbole, Metaphern, Allegorien), sondern enthalten selbstständige narrative Züge in ihrer vegetativen Eigenschaft (vgl. Middelhoff & Peselmann, 175), indem sie nicht nur einen konkreten Akteurstatus zugesprochen bekommen, sondern (selbst-)erzählender Teil eines Textes selbst sind. Pflanzen seien seit Anbeginn menschlicher Kultur traditioneller Natur, besonders im Hinblick auf ihre metamorphosierende Funktion: „From the onset of cultural history, plants have played a significant role as subjects in and characters of human storytelling in both oral and written traditions, and they continue to be involved in narrative practices worldwide. Their relevance in stories about metamorphoses, for instance, which explore ideas about the various forms of life, co-existence and survival, is a transcultural phenomenon.“ (ebd.) Beispiele dieser traditionsreichen Zentrierung von Pflanzen als kulturell-narrative Fixpunkte seien beispielsweise Daphne aus Ovid, die sich in einen Lorbeerbaum verwandelt oder Prajapati aus dem birmanischen Mythos, der sich in einen Mangobaum transformiert. Abseits der Funktion der Metamorphose sind Pflanzen in Bezug auf „hidden messages“ (ebd.) mit Märchen oder Erzählungen eng gekoppelt, wie es etwa bei Schneewittchens giftigem Apfel der Fall ist. Pflanzen sind dementsprechend als eigenständige Erzähler*innen und lebendige Komponenten innerhalb literarischer Texte anzusehen und verfügen in ihrer nicht-menschlichen Form über narrative Techniken der Informationsübermittlung.
Diese Tagung möchte ‚klassische‘ Texte ‚wi(e)derlesen‘, also entgegen bisheriger (Nicht-)Aufmerksamkeiten in Relektüren den Fokus auf vorkommende Pflanzen und ihre handlungsproduktive Rolle richten und mithilfe pflanzenzentrierter close readings gegen die bereits beschriebene plant-blindness angehen. Die Vorträge innerhalb Tagung können auf deutscher oder französischer Sprache, die Diskussionen werden in deutscher Sprache sein. Wir freuen uns über Vorschläge für Vorträge an der am 25. und 26. Januar 2025 stattfindenden Tagung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Abstracts für ca. 20-minütige Vorträge (mit anschließender 15-minütiger Diskussion) sollen bis zum 1. Dezember 2024 an prahl@em.uni-frankfurt.de, anna.thommes@stud.uni-frankfurt.de und leonard.glenz@stud.uni-frankfurt.de übermittelt werden. Die Entwürfe sollen nicht länger als eine Seite (TNR, Arial, Calibri, Schriftgröße 12, Zeilenabstand 1,5) sein. Beiträge von Nachwuchswissenschaftler*innen sind ausdrücklich erwünscht. Um eine (anteilige) Reisefinanzierung wird sich derzeit bemüht.