Schriftlichkeit. Aktivität, Agentialität und Aktanten
FP: Schriftlichkeit. Aktivität, Agentialität und Aktanten (31.1.2021)
Workshop am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
18.6.2021, 9–17 Uhr
24.6.2021, 9–17 Uhr
Die Veranstaltung findet online statt.
Veranstalter: Martin Bartelmus, Alexander Nebrig
Wer ist der Vater der Schrift? Gibt es eine Mutter des Schreibens? Platon, die Rede aufwertend, diskreditiert die Schrift als „vaterlos“ (Phaidros 275e). Sein deutscher Übersetzer Friedrich Schleiermacher erkennt dagegen in der Kopplung von Schrift und Autorschaft das echte Schrift- und zugleich Spracherzeugnis (Schleiermacher 1816, 145f.). Die Dekonstruktion wiederum negiert solche Rückbindungen von Rede und Schrift an den Geist und begreift die Schrift als Spur (Derrida 1967, 95), die darüber hinaus Sprache und Rede vorgängig sei. Die Frage aber, „Was liegt daran, wer spricht?“ (Foucault 1969/2003, 238) und ihre Übersetzung in den Bereich des Schriftlichen „Was liegt daran, wer schreibt?“ steht quer zur Opposition von Stimme und Schrift. Sie bekommt zudem eine neue Qualität, wenn sie nicht mehr nur menschliche Urheber betrifft: Wer oder was schreibt, wenn Textgeneratoren wie GPT-3 oder Übersetzungsmaschinen wie DeepL Texte erzeugen? Solche Aktanten schreiben ohne Autorschaft und ohne Schreibszenen (Campe 1991, Stingelin 2004), allein durch eine spezifische nicht-menschliche Agentialität.
Wie lässt sich eine solche Agentialität verstehen, die das Primat menschlicher Intentionalität (Bowden 2015, 60) gänzlich unterläuft? Mit Bruno Latour ließe sich formulieren, Agentialität bedeute „einen-Unterschied-Machen“ (Latour 2007, 123) – situativ, performativ, nicht-intentional. Zudem ist mit ihr nicht eine Fähigkeit, die Aktanten anhaftet, gemeint, sondern der Umstand, dass etwas von Aktanten durchgespielt (enacted) wird (Barad 2007, 214). Agentialität im Bereich der Schriftlichkeit erschöpft sich durch ihre Zeichenhaftigkeit keinesfalls im Zirkulieren und Vermitteln von Informationen.
Schriftlichkeit markiert einen Unterschied zu Schrift und Schreiben und ist vielleicht die Differenzierung, das Unterscheidende schlechthin, das Schreiben, Schrift und Text vorausgeht, nachfolgt und durchkreuzt. Zu überlegen wäre, ob man Schriftlichkeit nicht prozessual denken (Glück 1987, 87) müsse, weil sie gerade nicht den Anfang des Schreibens (als Akt oder Ereignis) oder den Endpunkt der Schrift (als Produkt) betrifft, sondern das Dazwischen, das kollektive Interagieren nicht-menschlicher und menschlicher Aktanten.
Auf einem Workshop am Institut für Germanistik der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf möchten wir unterschiedliche Aktanten der Schrift und ihre Aktivität erörtern sowie Schriftlichkeit als ein Konzept bestimmen, das Agentialität voraussetzt. Beiträge können das skizzierte theoretische Umfeld von Schriftlichkeit betreffen (1) oder praktische Probleme der Schriftlichkeit, die sich aus der spezifischen Materialität und Medialität der Schrift ergeben (2):
1. Schriftlichkeit als nicht-menschliche Agentialität
- Wie lassen sich zentrale Elemente poststrukturalistischer Theorien des 20. Jahrhunderts (Grammatologie, écriture, Autorschaft/Werk, Deterritorialisierung) mit Schriftlichkeit als Agentialität neu denken?
- Wie verhält sich der Begriff der „Agency“ aus der Sicht der AkteurNetzwerk-Theorie zur Schriftlichkeit?
- Welche Bezüge eröffnet Schriftlichkeit als Agentialität zum (feministischen) New Materialism insbesondere zu Karen Barads „agentiellen Schnitten“, Donna Haraways „Sympoiesis“ oder Jane Bennetts „Vibrant Matter“?
2. Prozesse der Schriftlichkeit in materialer und medialer Hinsicht
- Ist Schriftlichkeit eine Handlungsmacht? Die Frage betrifft die ethische Qualität der Schrift und des Schreibens einerseits sowie die Schriftlichkeit als Milieu oder Existenzweise andererseits. Wie ermöglicht Schriftlichkeit Schreiben, Schrift und Text?
- Wo finden Prozesse der Schriftlichkeit statt? Die Frage betrifft die Materialität, die technischen Bedingungen und ihre medialen Auswirkungen und Relationen der Schrift.
- Wann sind Prozesse der Schriftlichkeit Prozesse der Transkription oder der Übersetzung?
Der Workshop findet an zwei Freitagen im Juni 2021 statt (18.6. und 24.6.21). Wir erbitten Exposés (max. 300 Wörter) mit biobibliographischen Angaben (max. 150 Wörter) bis zum 31. Januar 2021 an folgende Adresse: martin.bartelmus@hhu.de oder nebrig@hhu.de
Bibliographie:
Karen Barad: Meeting the Universe Halfway: Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning. Durham: Duke University Press, 2007.
Sean Bowden: Human and Nonhuman Agency in Deleuze. In: Jon Roffe, Hannah Stark (Hg.): Deleuze and the Non/Human. London: Palgrave Macmillan, 2015, 60-80.
Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht, K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1991, 759–772.
Jacques Derrida: De la Grammatologie. Paris: Les Éditions de Minuit, 1967.
Helmut Glück: Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie. Stuttgart: Metzler, 1987.
Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003, 234-270.
Bruno Latour: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2007.
Friedrich Schleiermacher: Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens [1813]. In: Abhandlungen der Philosophischen Klasse der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften aus den Jahren 1812–1813. Berlin: Realschul-Buchhandlung, 1816, 143–172.
Martin Stingelin: Einleitung. In: Ders. (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München: Wilhelm Fink, 2004, 7–21.