CfP/CfA events

Nachwuchsworkshop: „Aber das Schwungrad drehte sich, unbekümmert über das Schicksal der einzelnen“. Inflation 1923 und der Übergang, Berlin

Beginning
24.11.2023
End
25.11.2023
Abstract submission deadline
20.08.2023

„Aber das Schwungrad drehte sich, unbekümmert über das Schicksal der einzelnen“. Inflation 1923 und der Übergang

Nachwuchsworkshop am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin, 24. und 25 November 2023

Organisation: Charlotte Reihs (Berlin) & Philipp Wegmann (Berlin)

„[D]er Dollar ist um weitere zweihunderttausend Mark gestiegen, der Hunger hat sich gemehrt, die Preise haben sich erhöht, und das Ganze ist sehr einfach: Die Preise steigen schneller als die Löhne – also versinkt der Teil des Volkes, der von Löhnen, Gehältern, Einkommen, Renten lebt, mehr und mehr in hoffnungsloser Armut, und der andere erstickt in ungewissem Reichtum. Die Regierung sieht zu. Sie wird durch die Inflation ihre Schulden los; daß sie gleichzeitig das Volk verliert, sieht niemand“. Mit diesen Worten konstatiert der Grabsteinverkäufer Ludwig Bodmer in Erich Maria Remarques Roman Der schwarze Obelisk (1929) das Zeitgeschehen im Inflationsjahr 1923. Bedingt durch fiskalische Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges sowie verfehlter Wirtschaftspolitik in der Weimarer Republik gerieten die institutionellen Strukturen in jenem Jahr ins Wanken, ließen die Apparate heißlaufen und lösten so durch grenzenloses Drucken von Geldscheinen eine Hyperinflation aus.
Mit dieser Geldentwertung und Umverteilung ging zugleich ein kultureller Wandel einher: Auf die ökonomische Krise folgte eine radikale Verunsicherung sowie moralische Krise mitsamt dem Verlust sozialer Werte und Normen (vgl. etwa Hans Ostwalds Sittengeschichte der Inflation, 1931). Die „desorganisierenden Wirkungen der Währungszerrüttung“ hatten so nicht nur Auswirkungen auf die „Verästelungen des Kulturlebens“ (Schumpeter), sondern führten letztlich neben der „Beschleunigung und Vermannigfaltigung der ökonomischen Vorstellungen“gar zu einer „allgemeinen Steigerung des Lebenstempos“ (Simmel), also der Verkürzung bisher gültig geglaubter Zeithorizonte.

Die Inflation 1923 als wirtschaftsgeschichtliches Schlüsselereignis des 20. Jahrhunderts manifestierte sich mithin als Phänomen von umfassender gesamtgesellschaftlicher Bedeutung, das in bestehende Verhältnisse eindrang, Umbrüche forcierte und sich zugleich im Gefüge des Politischen, Sozialen und Kulturellen entfaltete. Im Rahmen des Nachwuchsworkshops, der am 24. und 25. November 2023 am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin stattfindet, soll insbesondere das der Inflation innewohnende Übergangsmoment als Ausgangspunkt für unsere Untersuchungen dienen. Dieses verkörpert eben nicht nur eine singuläre Zeitqualität, in der sich neue Möglichkeiten, Abgründe und Potenziale entfalten. Die Schwellensituation 1923, geprägt durch fehlende Kontinuität und Stabilität, wird auch von zeitgenössischen Autor:innen wie Felix Scherret, Hans Fallada, Walter Mehring, Remarque und vielen weiteren sowohl literarisch erfasst als auch ästhetisch reflektiert und verdichtet. Selbst die Herausgeber und Verleger der Deutschen Vierteljahrsschrift rechtfertigen sich in ihrem eröffnenden Vorwort zur ersten Ausgabe des ersten Bandes in jenem Jahr für ihr Projekt und reflektieren damit die komplexen ökonomischen Rahmenbedingungen.

Insbesondere eingeladen zum Workshop sind Studierende sowie Promovierende, die sich am Anfang ihrer Dissertation befinden. Durch Vorträge von 15-20 Minuten Dauer, gefolgt von Diskussionen von 25-30 Minuten, möchten wir uns mit dem Themenkomplex aus literaturwissenschaftlicher Perspektive nähern. Darüber hinaus sind ausdrücklich auch Studierende und Promovierende aus benachbarten geistes- und gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen dazu aufgefordert, bis zum 20.08.2023 ein etwa 300 Wörter umfassendes Abstract zusammen mit einer kurzen biografischen Notiz an die folgenden E-Mail-Adressen zu senden: Charlotte Reihs (charlotte.reihs@hu-berlin.de) und Philipp Wegmann (philipp.wegmann@hu-berlin.de).

Als Themenschwerpunkte für die Beiträge sind unter anderem folgende Bereiche denkbar:

  • Gattungsgeschichte und -theorie der Inflation:
    Neben dem Inflationsroman entstehen zahlreiche Inflationsnovellen und -dramen. Außerdem thematisieren journalistische Medien und populäre Genres die Inflation intensiv. Welche Gattungen und narrative Strukturen werden dabei eingesetzt, um die Auswirkungen der Inflation auf individuelle Erfahrungen und gesellschaftliche Verhältnisse zu vermitteln? Des Weiteren stellt sich die Frage nach den mediologischen Spezifika, die mit der Verwendung bestimmter Gattungen und Formate einhergehen. Wie beeinflusst das jeweils gewählte Medium die Art und Weise, wie die Inflation thematisiert wird?

  • Temporalität und Zeitökonomie der Inflation:
    Zur Zeit der Hyperinflation im Jahr 1923 wird das Geld stetig weiter entwertet; im November geschieht dieser rapide Wertverlust schließlich gar stündlich. Wie manifestiert sich diese Verknappung der Zeit in den Inflationstexten und -filmen? Inwieweit spiegeln diese die fragmentierte und disjunktive Erfahrung der Zeit wider, wie sie von Benjamin in seinem Konzept des ‚Montage-Denkens beschrieben wird? Wie wird der Zusammenbruch der wirtschaftlichen Ordnung auf die zeitliche Struktur von Handlung und Erzählung übertragen? Welche psychologischen und sozialen Konsequenzen ergeben sich aus der Zeitknappheit und dem permanenten Wertverlust?

  • Dimensionierung und Relationalisierung des Prekären:
    Der Übergang ins Prekäre kann als Prozess verstanden werden, der eine kontinuierliche Veränderung und eine relationale Alteration der Welt(wahrnehmung) anlegt (vgl. Nancy), welche in Literatur und Film der Weimarer Republik in Erscheinung tritt. Unter Bezugnahme auf die drei Bedeutungsdimensionen des Prekären nach Lorey – Prekärsein, Prekarität und gouvernementale Prekarisierung – kann sodann gefragt werden, wie diese unterschiedlichen Ausprägungen des individuellen und gesellschaftlichen Prekären in den Inflationstexten verhandelt werden und wie der ökonomische Wertverlust des Geldes mit dem sozial-moralischen Wertverlust der Bevölkerung gekoppelt wird. Wie werden die verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Prekären in den Inflationstexten reflektiert und miteinander verknüpft? Welche narrativen und ästhetischen Strategien werden verwendet, um den ökonomischen Wertverlust des Geldes mit dem sozial-moralischen Wertverlust der Bevölkerung zu verbinden? Welche narrativen und ästhetischen Strategien werden angewandt, um den ökonomischen Wertverlust des Geldes mit dem sozial-moralischen Wertverlust der Bevölkerung zu verbinden? Wie wird die Verknüpfung zwischen ökonomischer Prekarität und ethischer Krise hergestellt und welche Konsequenzen hat dies für die Darstellung der Figuren und ihrer Handlungen?

Eine Rückmeldung erfolgt zeitnah bis spätestens Ende August 2023. Ein sich aus der Textauswahl der Referent:innen ergebender Reader wird allen Teilnehmenden im Vorfeld zur Verfügung gestellt. Zudem ist geplant, die Beiträge zu veröffentlichen. Reise- und Übernachtungskosten können innerhalb eines begrenzten Budgets erstattet werden. Für Fragen stehen wir gerne unter den angegebenen E-Mail-Adressen zur Verfügung.

Source of description: Information from the provider

Fields of research

Literature from Germany, Austria, Switzerland, Literature and sociology, Literary genre, Literature of the 20th century

Links

Contact

Institutions

Humboldt-Universität zu Berlin
Date of publication: 30.06.2023
Last edited: 30.06.2023