Die Praxeologie der Schreibszene. Schreiben und Lesen als Raum- und Beziehungspraxis 1750–1900, Hildesheim (31.01.2023)
CALL FOR PAPERS
Die Praxeologie der Schreibszene
Schreiben und Lesen als Raum- und Beziehungspraxis 1750–1900
Tagung, 13.–15. März 2024, Universität Hildesheim
PD Dr. Yvonne Al-Taie (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) / Dr. Jennifer Clare (Universität Hildesheim)
Schreiben und Lesen sind in den letzten Jahren zunehmend als sich materiell und körperlich komplex manifestierende Ereignisse beschrieben worden.1 Sie erweisen sich damit als untrennbar verbunden sowohl mit den schreibenden und/oder lesenden Personen als auch den privaten oder öffentlichen Räumen und soziokulturellen Umgebungen, in denen sie stattfinden.
Schreiben und Lesen in ihrer Körperlichkeit, Materialität und subjektivierenden Qualität zu erfassen, bedeutet, sie in Rückbindung an eben diese soziokulturellen und raumzeitlichen Umgebungen zu beschreiben. Eine systematische Beschäftigung mit grundsätzlichen Fragen der räumlichen, sozialen, gemeinschaftlichen und intersubjektiven Einbindung von Schreiben und Lesen steht allerdings bislang aus. Hier setzt die geplante Tagung an, indem sie – exemplarisch an Texten des späten 18. und des 19. Jahrhunderts – Schreiben und Lesen zum einen als dezidiert raumzeitliche und zum anderen als Beziehungs- und Gemeinschaftsereignisse in den Blick nehmen möchte. Dass die beiden Aspekte des physischen und sozialen Raums ein wechselseitiges Bedingungsgefüge bilden und nur gemeinsam untersuchbar sind, legen die zentralen Thesen des spacial turn2 ebenso wie neuere raumsoziologische Überlegungen3 nahe. Wie können wir, so die Ausgangsfrage, Praktiken des Schreibens und/oder Lesens gezielt im Horizont der Räume und der sozialen Kontexte beleuchten, in denen sie stattfinden?
Mit dem gewählten Zeitraum (1750–1900) lassen sich eine Reihe historisch interessanter und wegweisender Phänomene in diesem Sinne in den Blick nehmen: Mit dem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erstarkenden Bürgertum gehen neue Konstellationen des Wohnens, Zusammenlebens und Arbeitens einher, wodurch sich auch die physischen und sozialen Räume verändern, in denen geschrieben und gelesen, sich zum ungestörten Schreiben oder Lesen zurückgezogen oder sich über Geschriebenes und Gelesenes ausgetauscht wird. In diesem Zuge ergeben sich rund um das Lesen und Schreiben neue Formen des geselligen Beisammenseins, neue Formen familiärer, freundschaftlicher und erotischer Beziehungspraxis und neue Formen der professionellen Literaturproduktion, -distribution und -rezeption.
Zusätzlich ist die Zeit vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert eine Schlüsselzeit der Entwicklung des modernen Schreibens, in der die medialen, technischen und sozialen Voraussetzungen des Schreibens grundlegend neu gesetzt und verhandelt werden (u. A. durch die Verfügbarkeit von neuen bzw. günstigen Schreib-, Speicherungs- und Vervielfältigungstechnologien, durch neue journalistische Formate, aber auch durch die flächendeckende Alphabetisierung).4 Entsprechend befinden sich Praktiken des Lesens und Schreibens selbst in einem grundlegenden Wandel, neue zeittypische Praktiken der professionellen und/oder privaten Produktion und Rezeption von Texten treten in Erscheinung und verlangen neue räumliche und soziale Settings des Lesens und Schreibens.
Einen wichtigen interdisziplinären Anknüpfungspunkt und eine methodische Grundlage für die Tagung bieten neuere praxeologische Ansätze der Soziologie.5 Sie erlauben es, Schreiben und Lesen als komplexe Praktiken6 in den Blick zu nehmen, d.h. als körperliche Bewegungen in einer spezifischen raumzeitlichen Umgebung7 sowie als sozial-kulturell eingebundene und subjektivierende Verhaltensweisen.8 Ein praxeologischer Ansatz vermag eine produktive Brücke zu schlagen zwischen der Individualität des Schreib- und Leseprozesses auf der einen Seite und seiner komplexen kollektiven und gemeinschaftlichen Anbindung auf der anderen Seite. Zusätzlich wird er dem Umstand gerecht, dass Schreiben und Lesen einerseits ereignishaft sind, d.h. nur situativ und flüchtig greifbar werden und andererseits räumlich-materiell bedingt und gestaltbar sind und im Raum Spuren hinterlassen: Praktiken des Schreibens und Lesens treffen auf eine räumliche Umgebung mit materiellen und sozialen Gegebenheiten sowie anwesenden Personen, auf die sie reagieren müssen. Zugleich sind sie aktiv an der momenthaften Wahrnehmung, Erschließung und Hervorbringung dieser Umgebung und der Beziehungen zu den anwesenden Personen beteiligt.
Ergänzend kann an mehrere Stränge der aktuellen literatur- und kulturwissenschaftlichen Schreib- und Leseforschung produktiv angeknüpft werden. Neben dem mittlerweile einschlägigen Konzept der Schreibszene9, das Schreiben als Konstellation aus Text, Schreibwerkzeug und körperlicher Geste fasst, die zwischen Schreibprozess und Schreibprodukt oszilliert,10 sind vor allem dessen Weiterentwicklungen der letzten Jahre anschlussfähig: Zu denken wäre etwa an die Forschung zu einer zur Schreibszene komplementären Leseszene11 oder zur Verschränkung der Schreibszene mit einer literaturbetrieblichen Gegenwart (etwa im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs Schreibszene Frankfurt).
In diesem Sinne laden wir mit der Tagung auch dazu ein, die Aspekte des Räumlichen und Sozialen, die im Konzept der Schreibszene bereits angelegt sind, gezielt über praxeologische und literatursoziologische Überlegungen auszudifferenzieren.
Beiträge können sich etwa mit folgenden Fragestellungen auseinandersetzen, sind darauf jedoch nicht beschränkt:
- Was bedeutet es, die Einsichten ernst zu nehmen,
- ...dass Schreiben und Lesen sich in spezifischen Räumen ereignen?
- ...dass schreibende Subjekte immer von anderen Subjekten umgeben sind?
- Wie lassen sich Erkenntnisse etwa des spatial turn und der soziologischen Praxeologie für das Verständnis der Räumlichkeit von Schreib- und Leseszenen fruchtbar machen?
- Wie lassen sich Erkenntnisse aus der praxeologischen und der relationalen Soziologie für das Verständnis der Kollektivität von Schreib- und Leseszenen fruchtbar machen?
- Wie interferieren Schreib- und Lesepraktiken mit zeittypischen raumbezogenen Praktiken, etwa des (Zusammen-)Wohnens, des (Zusammen-)Arbeitens, des häuslichen Einrichtens?
- Welche Rolle spielen mobiles Lesen und Schreiben in Außen- und Naturräumen wie dem Garten, der Naturlandschaft, auf Reisen sowie die dazu nötigen und verfügbaren portablen Buchformate und Schreibwerkzeuge?
- Wie interferieren Schreib- und Lesepraktiken mit zeittypischen Beziehungspraktiken, etwa dem Stiften familiären Zusammenhalts, dem Schließen und Gestalten von Freundschaften, dem Führen von Liebesbeziehungen und Ehen, der Zusammenarbeit in Salons, Zirkeln, Vereinen, Bruderschaften…?
- Was bedeuten neu aufkommende technische Praktiken und Artefakte, aber auch Moden des Mobiliars und der räumlichen Ausstattung für die Orte, an denen Schreiben und Lesen stattfindet?
- Was bedeuten die Professionalisierung des Literaturmarkts und damit verbundene neue Beziehungsformen (Herausgeberschaft, Lektorat, Verlegerschaft, Co-Autor_innenschaft, etc.) für die Praxis des Lesens und Schreibens?
- Inwiefern sind die räumliche und die soziale Dimension des Schreibens und Lesens geschlechtlich markiert?
Bitte senden Sie Beitragsvorschläge in Form eines Abstracts (max. 2.000 Zeichen) und einer Kurzvita bis zum 31. Januar 2023 an PD Dr. Yvonne Al-Taie (yaltaie@ndl-medien.uni-kiel.de) und Dr. Jennifer Clare (jennifer.clare@uni-hildesheim.de).
Beiträge von Wissenschaftler_innen in jeder Karrierephase sind herzlich willkommen.
Wir bemühen uns um eine Finanzierung der Reise- und Übernachtungskosten.
[1] Vgl. u.a. Jutta Müller-Tamm, Caroline Schubert und Klaus Ulrich Werner (Hrsg.): Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift. Paderborn 2018; Monika Schmitz-Emans, Annette Simonis und Simone Sauer-Kretschmer (Hrsg.): Schrift und Graphisches im Vergleich, Bielefeld 2019; Christine Lubkoll und Claudia Öhlschläger (Hrsg.): Schreibszenen. Kulturpraxis - Poetologie - Theatralität, Freiburg im Breisgau 2015; Luisa Banki und Kathrin Wittler (Hrsg.): Lektüre und Geschlecht im 18. Jahrhundert: zur Situativität des Lesens zwischen Einsamkeit und Geselligkeit, Göttingen 2020.
[2] Vgl. u.a Jörg Döring und Tristan Thielmann: Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008; aus literaturwissenschaftlicher Perspektive Wolfgang Hallet und Birgit Neumann: Raum und Bewegung in der Literatur. Die Literaturwissenschaften und der Spatial Turn. Bielefeld 2015.
[3] Vgl. für einen umfassenden aktuellen Überblick Markus Schroer: Räume der Gesellschaft. Soziologische Studien, Wiesbaden 2019.
[4] Vgl. grundlegend Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 - 1900, München.1985.
[5] Vgl. u.a. Thomas Alkemeyer: „Subjektivierung in sozialen Praktiken. Umrisse einer praxeologischen Analytik“, in: Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung, hrsg. v. Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, u. Dagmar Freist, Bielefeld 2013, S. 33–68; Andreas Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis. Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016; Kerstin Meißner: Relational Becoming - mit Anderen werden. Soziale Zugehörigkeit als Prozess, Bielefeld 2019.
[6] Zum soziologischen Praxisbegriff im Horizont literarischer Produktion vgl. Tasos Zembylas und Claudia Dürr: Wissen, Können und literarisches Schreiben. Eine Epistemologie der künstlerischen Praxis, Wien 2009 sowie aktuell Carolin Amlinger: Schreiben. Eine Soziologie literarischer Produktion, Frankfurt am Main 2021.
[7] Vgl. Yvonne Al-Taie: „Unmittelbarkeit. Körperlichkeit, gegenwärtiges Erleben und epistolare Vermittlung in den Briefen des Grüninger Kreises an Novalis“, in: literatur für leser:innen, Sonderheft 2023, hrsg. v. Frederike Middelhoff [im Druck].
[8] Vgl. Jennifer Clare: „Schreibszene extended – Die Schreibumgebung in raum- und praxissoziologischer Perspektive“, in: Dynamiken historischer Schreibszenen, hrsg. v. Katja Barthel. Berlin 2022, S. 177–196.
[9] Vgl. Rüdiger Campe: „Die Schreibszene. Schreiben“, in: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, hrsg. v. Hans Ulrich Gumbrecht u. K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt am Main 1991, S. 759–772 sowie Martin Stingelin (Hrsg.): ‘Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum‘. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte, München 2004.
[10] Vgl. Sandro Zanetti (Hrsg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin 2012.
[11] Vgl. Irina Hron, Jadwiga Kita-Huber und Sanna Schulte (Hrsg.): Leseszenen: Poetologie – Geschichte – Medialität, Heidelberg 2020; Julika Griem: Szenen des Lesens: Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung. Bielefeld 2021.