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VERLÄNGERUNG: Die Entgrenzung des Ruralen – Neue Perspektiven auf Transformationen von Ländlichkeit und ländlichen Räumen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Dresden

Beginning
03.04.2024
End
04.04.2024
Abstract submission deadline
15.11.2023

Call for Papers

Interdisziplinärer und Internationaler Workshop an der Technischen Universität Dresden vom 03.-04. April 2024

Die Entgrenzung des Ruralen – Neue Perspektiven auf Transformationen von Ländlichkeit und ländlichen Räumen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart

Ländliche Regionen oszillieren im öffentlichen Diskurs zwischen Marginalisierung und euphorischer Aufwertung. So dient etwa die brandenburgische Kleinstadt Lauchhammer aktuell als Schauplatz des ARD-Krimis „Lauchhammer – Tod in der Lausitz“, der die Provinz als Ort des Verfalls inszeniert. Zugleich aber lässt sich in Literatur, Film, Fernsehen und neuen Lebensentwürfen eine Sehnsucht nach dem Ausstieg aus der Großstadt beobachten (zuletzt bspw. im VOX Reality-Format “Stadt, Land, Flucht - Wir ziehen raus”), gefördert nicht zuletzt durch Tendenzen der Urbanisierung des Landlebens bzw. der Angleichung von Lebensentwürfen und -erwartungen in Stadt und Land. Als Zeichen der Signifikanz des ländlichen Raums für die Neuaushandlung von Fragen nach zukunftsfähigen Ressourcen und Formen des Zusammenlebens ist u.a. auch die kürzliche Bewilligung der Errichtung eines Großforschungszentrums zur Weiterentwicklung und Erforschung von Digitalisierung und Zukunftstechnologien in der sächsischen Oberlausitz (DZA) zu werten. Eine eingehende Beschäftigung mit dem ‚Dorf‘, der ‚Provinz‘ und der ‚Kleinstadt‘ als Problemräume einerseits und Räume des zukunftsfähigen ‚guten Lebens‘ andererseits ist unabdingbar, möchte man die tiefgreifenden gesellschaftlichen Transformationen im Rahmen des Strukturwandels, der Klimakrise und sozioökonomischer Umbrüche wissenschaftlich beobachten und erforschen.

Diese Signifikanz des Ruralen hat in der Literatur- und Kulturwissenschaft der letzten Jahre vermehrt Aufmerksamkeit erfahren. Ausgehend von der Diagnose eines neuen Trends zum ‚Provinz erzählen‘ (vgl. Stockinger 2020) in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wurde das Dorf als literarischer/medialer Raum zur Reflexion und experimentellen Aushandlung von Veränderungserfahrungen erforscht (vgl. Nell/Weiland 2014, Nell/Weiland/Marszałek 2018, Neumann/Twellmann 2014). Dabei wurden sowohl die kulturellen und poetologischen Folgen eines zunehmenden Strukturverlusts in ländlichen Regionen (vgl. Ehrler/Weiland 2018) als auch deren Funktion als Projektionsfläche zur Imagination zukunftsfähiger Lebensmodelle (vgl. Langner/Weiland 2022, Nell/Weiland 2021) in den Blick genommen. Auf der Grundlage der dabei gewonnenen Erkenntnisse sollte es jetzt aber verstärkt darum gehen, die Provinz als Beobachtungsobjekt für Transformationsprozesse im interdisziplinären Zusammenwirken mit Disziplinen wie der Humangeographie, der Soziologie, Ethnologie, Regionalplanung oder Sozialpsychologie zu etablieren und so das Phänomen und Paradigma ‚Ländlichkeit‘ aus einer umfassenderen gesellschaftsanalytischen Perspektive beschreibbar zu machen. Zudem blicken bisherige Arbeiten zum Thema nur selten über die kanonisierten Narrative und Konzeptionen des ‚Dorfes‘ hinaus und versäumen es, einen diversen Fundus an ‚übersehenen‘ oder ‚verdrängten‘ Dorfgeschichten und Betrachtungswinkeln auf den ländlichen Raum zu erschließen.

Bisher eher marginalisiert wurde so beispielsweise die herausragende Bedeutung der Provinz in interkulturellen Regionen wie der Lausitz als Heimat der sorbischen Minderheit. Da das Dorf und das ländliche Zusammenleben gemeinhin als ein identitätsstiftendes Zentrum der sorbischen Kultur gelten und die Sorben seit Jahrhunderten unmittelbar von disruptiven Veränderungen des ruralen Raumes, etwa im Zuge der Braunkohleförderung, betroffen waren und sind, erscheint die ‚sorbische Lausitz‘ als äußerst ertragreicher Untersuchungsgegenstand für eine interdisziplinäre Erforschung gesellschaftlicher Transformationen. So bilden sich etwa in der außerhalb der Sorabistik weitestgehend marginalisierten sorbischen Literatur, deren Geschichte auch als eine Literaturgeschichte des (sorbischen) Dorfes erzählt werden kann, sowohl Formen des Umgangs mit existentiellen Verwerfungen als auch Imaginationen zukunftsfähigen Lebens im Ruralen heraus. Auf einer diskursanalytischen Ebene bietet eine Betrachtung sorbischer Ländlichkeit und ihrer Repräsentationsformen ebenso die Möglichkeit, Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Kontext des gesellschaftlichen Umgangs mit dem ‚Ruralen‘ anhand eines Raumes in den Blick zu bekommen, in dem sich die Differenzkategorien ‚ländlich‘, ‚ostdeutsch‘ und ‚sorbisch‘ auf vielfältige, intersektionale Weise überschneiden und der zudem durch seine Grenznähe von vielfältigen Formen der Interkulturalität geprägt ist.

Der geplante interdisziplinäre und internationale Workshop strebt nach der im Titel angedeuteten ‚Entgrenzung des Ruralen‘, d.h. danach, bisherige disziplinäre und methodische Schranken zu überwinden und den etablierten ‚Kanon‘ an Untersuchungsgegenständen und Perspektiven auf seine Ermöglichungsbedingungen hin zu befragen, ihn so zugleich auf den Prüfstand zu stellen und zu revidieren. Darüber hinaus bezieht sich die ‚Entgrenzung‘ auf das Rurale als Forschungsobjekt, das heterogene Räume und Einheiten umfasst (‚Dorf‘ vs. ‚Provinz‘ vs. ‚Land‘ vs. ‚Kleinstadt‘ usw.), ohne durch ausschließlich mit Raumkategorien operierende Ansätze beschrieben werden zu können. Das Rurale kann sich, wie in der Soziologie dargelegt wurde, in Formen der Gemeinschaftsbildung und Lebensgestaltung auch außerhalb ländlicher Räume manifestieren (vgl. Barlösius 2018, Neu 2018); es tritt in Hybrid- und Übergangsformen einer „Rurbanität“ (vgl. Langner/Frölich-Kulik 2018) oder „rurbanen Assemblagen“ (vgl. Schmidt-Lauber/Wolfmayr 2020) auf; und es konstituiert sich über eine Schichtung von Zeit- und Bedeutungsebenen als „Palimpsestraum“ (vgl. Kronshage/Sandten/Thielmann 2015). Schließlich zielt ‚Entgrenzung‘ darauf ab, im Sinne der Postcolonial Studies sowie neuerer Theoriediskussionen zu Konzepten wie dem ‚Postmigrantischen‘ den forschenden Blick auf die ‚Provinz‘ für Macht- und Herrschaftsverhältnisse (bspw. auch im Sinne einer Urbanormativität, vgl. Fulkerson/Thomas 2019) zu sensibilisieren und bisher Ausgeschlossenes (Akteur:innen, Phänomene, Gegenstände etc.) in den Mittelpunkt zu rücken.

Insgesamt zielt der Workshop darauf ab, Transformationen des ländlichen Raumes bzw. Imaginationen des Ländlichen auf interdisziplinäre und multiperspektivische Weise zu untersuchen. Sie sollen so als Beobachtungsmedien sozialer Transformationsprozesse und -erfahrungen aus ‚entgrenzter‘, hegemoniekritischer und dezentrierter Perspektive operationalisierbar werden.

Als Themen und Schwerpunkte für Beiträge wären u.a. denkbar:

  • Disruptive Transformationen des Ruralen (Klimakrise, Strukturwandel etc.)
  • ‚Landlust‘ vs. ‚Landflucht‘
  • ‚Sterbende‘/‚Verfallende‘ Dörfer vs. das Dorf als Raum des (zukünftigen) ‚guten Lebens‘
  • Ruralität und Minderheiten (z.B. Sorben)
  • Interkulturalität in der Provinz
  • ‚Außenseiter‘ und Marginalisierte im ländlichen Raum
  • Ländlichkeit als Differenzkategorie in intersektionalen Konstellationen (z.B. die ostdeutsche Provinz als Raum des ‚Anderen‘)
  • ‚Dörflichkeit‘/‚Ländlichkeit‘ außerhalb des Dorfes
  • Rurbanität – Auflösung der Grenzen zwischen Stadt und Land
  • u.v.m.

Während ein Schwerpunkt des Workshops auf der Untersuchung gegenwärtiger Transformationsprozesse im ländlichen Raum liegen soll, bedarf es für eine entgrenzte Ruralitätsforschung notwendigerweise auch einer Historisierung der Perspektiven, weshalb Beiträge mit zeitlichem Fokus ab dem 19. Jahrhundert willkommen sind. Imaginationen und Figurationen des Ländlichen in Medien und den Künsten sind ein Hauptaugenmerk des Workshops, allerdings möchten wir neben den Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften ausdrücklich auch weitere Disziplinen wie die Humangeographie, Regionalplanung, Soziologie, Ethnologie oder Sozialpsychologie ansprechen, deren Blickwinkel für eine umfassende und interdisziplinär informierte Betrachtung des Ruralen unabdingbar sind. Ausdrücklich erbeten sind zudem auch Beiträge von Journalist:innen und  von Akteur:innen im (und für den) ländlichen Raum, um die geplante ‚Entgrenzung‘ gleichsam auf die oft noch bestehende Barriere zwischen akademischem und breiterem öffentlichen Diskurs bzw. zwischen Theorie und Praxis auszuweiten.

Teil des Vorhabens ist eine internationale Erweiterung und Perspektivierung des Forschungszusammenhangs, daher sind Beiträge von außerhalb Deutschlands ansässigen Wissenschaftler:innen explizit erwünscht.

Der Workshop findet vom 03.-04.04.2024 an der Technischen Universität Dresden in deutscher und englischer Sprache statt. Ein Antrag auf Übernahme der Reise- und Übernachtungskosten wird gestellt. Die anschließende Publikation der Beiträge ist geplant.

Bitte senden Sie Ihr Abstract (max. 1 Seite) für einen 20-minütigen Vortrag in deutscher oder englischer Sprache sowie eine Kurzbiografie bis zum 15.09.2023 (verlängert bis zum 15.11.2023) an: 

Dr. Willi Wolfgang Barthold: willi_wolfgang.barthold@tu-dresden.de

Veranstalter:innen:

Dr. Willi Wolfgang Barthold (Technische Universität Dresden)

Prof. Dr. Claudia Stockinger (Humboldt-Universität zu Berlin)

Prof. Dr. Christian Prunitsch (Technische Universität Dresden)

Dr. Christian Hißnauer (Humboldt-Universität zu Berlin)

Literatur

Barlösius, Eva: Dörflichkeit? Theoretische und empirische Reflexionen über einen heterodoxen Begriff. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 66 (2018) 2, S. 55-68.

Ehrler, Martin und Marc Weiland (Hg.): Topografische Leerstellen. Ästhetisierungen verschwindender und verschwundener Dörfer und Landschaften. Bielefeld: transcript 2018.

Fulkerson, Gregory M. und Alexander R. Thomas: Urbanormativity. Reality, Representation, and Everyday Life, Lanham: Lexington Books 2019.

Kronshage, Eike, Cecile Sandten und Winfried Thielmann: Palimpsestraum Stadt. Eine Einführung. In: Dies. (Hg.): Palimpsestraum Stadt. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2015, S. 1-11.

Langner, Sigrun und Maria Frölich-Kulik (Hg.): Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt. Bielefeld: transcript 2018.

Langner, Sigrun und Marc Weiland (Hg.): Die Zukunft auf dem Land. Imagination, Projektion, Planung, Gestaltung. Bielefeld: transcript 2022.

Nell, Werner und Marc Weiland (Hg.): Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Bielefeld: transcript 2014.

Nell, Werner, Magdalena Marszałek, Marc Weiland (Hg.): Über Land. Aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Dorf und Ländlichkeit. Bielefeld: transcript 2018.

Nell, Werner und Marc Weiland (Hg.): Gutes Leben auf dem Land? Imaginationen und Projektionen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bielefeld: transcript 2021.

Neu, Claudia: Akteure der Neuen Dörflichkeit. In: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 66 (2018) 2, S. 11-22.

Neumann, Michael und Marcus Twellmann: Marginalität und Fürsprache. Dorfgeschichten zwischen Realismus, Microstoria und historischer Anthropologie. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 39 (2014), H. 2, S. 476-492.

Schmidt-Lauber, Brigitta und Georg Wolfmayr: Rurbane Assemblagen. Vorschlag für eine übergreifende Untersuchung von alltäglichen Aushandlungen von Stadt und Land. In: Manuel Trummer und Anja Decker (Hg.): Das Ländliche als kulturelle Kategorie. Aktuelle kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Stadt-Land-Beziehungen. Bielefeld: transcript 2020, S. 23-43.

Stockinger, Claudia: Provinz erzählen. Zur Einleitung. In: Zeitschrift für Germanistik NF XXX (2020), H. 2, S. 295-306.

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Fields of research

Interdisciplinarity, Literature and sociology, Literature and cultural studies, Literature and geography/cartography, Intermediality, Literature of the 19th century, Literature of the 20th century, Literature of the 21st century

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Date of publication: 23.06.2023
Last edited: 15.09.2023